LG Augsburg

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Zitieren als:
LG Augsburg, Urteil vom 28.10.2021 - 4 Ns 306 Js 113593/20 - asyl.net: M30587
https://www.asyl.net/rsdb/m30587
Leitsatz:

Keine Strafbarkeit passlosen Aufenthalts wegen Unzumutbarkeit einer Freieilligkeitserklärung:

An die verweigerte Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung können keine strafrechtlichen Sanktionen geknüpft werden, wenn die Erklärung, freiwillig in das Herkunftsland reisen zu wollen, nicht der Wahrheit entspräche. 

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: AG Erlangen, Urteil vom 10.12.2021 - 8 Cs 452 Js 51049/21 - asyl.net: M30325)

Schlagwörter: Libanon, Palästinenser, unerlaubter Aufenthalt, Mitwirkungspflicht, Freiwilligkeitserklärung, Laissez-Passer, Passbeschaffung, Zumutbarkeit, Strafbarkeit, Passlosigkeit, Strafrecht,
Normen: AufenthG § 48 Abs. 2, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Die Angeklagten begaben sich im Zeitraum vom 10.09.2018 bis zur Anklageerhebung in dieser Sache am 23.07.2020 wiederholt zur libanesischen Botschaft in Berlin. Der Angeklagte als staatenloser Palästinenser erhielt jeweils die Auskunft, dass er als Staatenloser weder einen libanesischen Reisepass noch sonst ein Ausweisdokument erhalten könne; die Angeklagte erhielt von der libanesischen Botschaft jeweils die Auskunft, dass ein libanesischer Pass oder Ausweisersatz nur dann ausgestellt werden könnte, wenn sie einen Aufenthaltstitel für Deutschland vorlegen könne. Dies wiederum war der Angeklagten im Hinblick auf die rechtskräftige Ausweisungsentscheidung vom 17.10.2013 dauerhaft nicht möglich.

Die Angeklagten sprachen jeweils auch vor, um die Möglichkeiten auszuloten, ob sie einen sog. Heimreiseschein, also einen sog. "Laissez-passer" ausgestellt bekommen könnten. Mittels dieses Heimreisescheins wäre es unter Umständen möglich gewesen, dass die Angeklagten einmalig in den Libanon reisen, um dort einen Pass oder einen Ausweisersatz zu beantragen und ausstellen zu lassen.

Die Angeklagten erhielten hinsichtlich des sog. Heimreisescheins jeweils die Auskunft, dass dessen Erstellung voraussetze, dass die Angeklagten eine Erklärung abgeben, wonach sie FREIWILLIG in den Libanon reisen würden.

Bei den Angeklagten bestand eine solche Freiwilligkeit nicht: eine (einmalige) Reise in den Libanon wäre für die Angeklagten allenfalls in Betracht gekommen, um negative Rechtsfolgen in Deutschland zu vermeiden. Aus freien Stücken war die Heimreise gerade keine Option für die Angeklagten. [...]

Die Angeklagten haben alles Zumutbare getan, um einen Pass, ein Ausweisersatzpapier bzw. einen sog. Heimreiseschein zu erlangen.

Nachdem die Vorgabe der libanesischen Botschaft für die Ausstellung eines Passes oder Ausweisersatzpapiers war, dass die Angeklagten einen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland vorlegen müssen, war insoweit seitens der Angeklagten nichts Weiteres veranlasst, denn einen solchen Aufenthaltstitel konnten die Angeklagten infolge der rechtskräftigen Ausweisungsentscheidung nicht erlangen. Daher war insoweit keine weitere sinnvolle und damit zumutbare Mitwirkungshandlung der Angeklagten denkbar.

Was den sog. Heimreiseschein bzw. "Laissez-Passer" anbelangt, gilt im Ergebnis das Gleiche: Unumstößliche Voraussetzung für die Ausstellung des benannten Papiers war laut libanesischer Botschaft die Abgabe einer sog. "Freiwilligkeitserklärung". Eine solche Freiwilligkeitserklärung war den Angeklagten aber nicht zumutbar im Sinne von § 48 Abs. 2 AufenthG.

Das Zumutbarkeitskriterium soll lediglich der Nachlässigkeit oder der Bequemlichkeit des Ausländers Einhalt gebieten (BayObLG, Urteil vom 08.03.2005 - 4 St RR 211/04). Das OLG München hat in seiner Entscheidung vom 09.03.2010 (4 St RR 102/09) die Zumutbarkeit der Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung mit folgender Begründung abgelehnt:

"Würde man den Ausländer wegen der Verweigerung der Freiwilligkeitserklärung bestrafen, würde man die Pflicht sanktionieren, zur Erlangung einer ausländischen Identifizierungsurkunde bewusst falsche Erklärungen abgegeben zu müssen. Eine solche Handhabung wäre dem deutschen Strafrecht fremd und dürfte verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht standhalten."

Das OLG München schließt sich im Ergebnis damit der Rechtsprechung des OLG Nürnberg an; letzteres hat in seinem Urteil vom 16.01.2007 (2 St Ss 242/06) die Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung mit folgender Argumentation als unzumutbar angesehen: Es sei "einer Person (...) schon in Anbetracht des unveräußerlichen Gebots der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 GG) und des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) nicht anzusinnen, eine Erklärung abzugeben, von der der Erklärende weiß, dass sie falsch ist. Eine Lüge kann auch dann niemandem abverlangt werden, wenn dies die Voraussetzung dafür ist, einer zweifelsfrei bestehenden Pflicht zur Ausreise zu genügen, dies auch vor dem Hintergrund, dass es nicht der Ausländer, sondern sein Heimatstaat ist, der die Frage der Freiwilligkeit zum Entscheidungskritierium darüber erhebt, ob ihm ein Pass (oder Passersatzpapier) erteilt wird oder nicht. (...)" [...]

So führt das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 10.11.2009 (1 C 19.08, vgl. NVwZ 2010, 918) aus:

"Die fehlende Bereitschaft der Kl., der bestehenden Ausreisepflicht freiwillig nachzukommen und diese durch Abgabe einer entsprechenden "Freiwilligkeitserklärung" gegenüber der Auslandsvertretung ihres Heimatstaates zu dokumentieren, begründet keine Unzumutbarkeit i.S. des § 25 V 4 AufenthG. Dem steht die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte zur mangelnden Strafbarkeit der Weigerung, eine "Freiwilligkeitserklärung" abzugeben (OLG Nürnberg, Urt. v. 16.1.2007 - 2 St OLG Ss 242/06, zur Unzumutbarkeit; vgl. aber auch OLG Celle, InfAuslR 2007, 255, wonach bereits der objektive Straftatbestand des § 95 I Nr. 5 AufenthG den Verstoß gegen § 49 II Halbs. 2 AufenthG nicht erfasst; so auch Hailbronner, AusländerR, Stand: April 2009, A 1 § 95 Rdnr. 54), nicht entgegen. Denn die deutsche Rechtsordnung nimmt es hin, wenn sich ein Ausländer - wie die Kl. - zur Abgabe einer "Freiwilligkeitserklärung" gegenüber einer ausländischen Stelle außer Stande sieht. Die Abgabe kann weder rechtlich erzwungen noch gegen den Willen des Ausländers durchgesetzt werden; an die verweigerte Abgabe können deshalb auch keine strafrechtlichen Sanktionen geknüpft werden." [...]