VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 11.02.2022 - 31 K 661.19 A - asyl.net: M30599
https://www.asyl.net/rsdb/m30599
Leitsatz:

Kein Flüchtlingsschutz wegen innerstaatlicher Fluchtalternative in Guinea:

Der Kläger muss sich im Hinblick auf eine mögliche Verfolgung in Guinea auf internen Schutz verweisen lassen. Es besteht in den meisten Fällen die Möglichkeit, bei staatlicher Verfolgung, bei Repressionen durch Dritte sowie bei regionaler Instabilität, der Verfolgung durch Umzug in einen anderen Landesteil auszuweichen. Gesunde, nicht besonders vulnerable Rückkehrende sind auch ohne familiäres Netzwerk in der Lage, ein Existenzminimum zu erwirtschaften.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Guinea, Militärputsch, interne Fluchtalternative, Zumutbarkeit, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzgrundlage,
Normen: AsylG § 3e Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Insbesondere hat der Kläger in Guinea keine politisch motivierte Verfolgung (weder durch den Staat oder Private) zu befürchten. Das gilt namentlich, soweit der Kläger geltend macht, im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland (erneut) mit politisch motivierten Übergriffen von Soldaten und Sicherheitskräften rechnen zu müssen, die ihm fälschlicherweise den Diebstahl von Waffen vorwarfen. Dabei kann offen bleiben, ob das Vorbringen des Klägers gegenüber dem Bundesamt und im gerichtlichen Verfahren zu seinem individuellen Verfolgungsschicksal insgesamt oder zumindest in seinem wesentlichen Kern in tatsächlicher Hinsicht als glaubhaft angesehen werden kann, und ob dem Kläger wegen der (mutmaßlichen) Vorverfolgung durch seine Verfolger die Vermutungsregel bzw. Beweiserleichterung aus Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugutekommt. Gegen die Glaubhaftigkeit spricht, dass die vom Bundesamt eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes nicht ergab, dass die Person, für die sich der Kläger ausgibt, in Guinea gesucht wird.

Jedenfalls muss sich der Kläger im Hinblick auf eine mögliche künftige Verfolgung durch die Verfolger aus der Region … auf internen Schutz verweisen lassen(§ 3e AsylG). Es ist dem Kläger unter den Gegebenheiten seines konkreten Einzelfalls zuzumuten, sich außerhalb seines in der Region … gelegenen früheren Wohnortes in einem anderen Landesteil Guineas - etwa in Conakry oder einer der anderen guineischen Großstädte - niederzulassen und sich so dem möglichen Einflussbereich seiner Verfolger zu entziehen (vgl. aus der jüngeren Spruchpraxis der Kammer z.B. auch VG Berlin, Urteile vom 20. Dezember 2021 - VG 31 K 77.19 A -, S. 10 ff. d. amtl. Abdr., vom 8. Dezember 2021 - VG 31 K 107.19 A -, S. 12 ff. d. amtl. Abdr., vom 27. Oktober 2021 - VG 31 K 619.18 A -, S. 11 ff. d. amtl. Abdr., vom 29. September 2021 - VG 31 K 427.18 A -, S. 10 ff. d. amtl. Abdr., vom 22. September 2021 - VG 31 K 340.18 A -, S. 11 ff. d. amtl. Abdr., vom 22. September 2021 - VG 31 K 689.17 A -, S. 9 ff. d. amtl. Abdr., und vom 8. September 2021 - VG 31 K 809.18 A -, juris Rn. 30 ff.; s. ferner VG Würzburg, Urteil vom 11. Dezember 2020 - W 10 K 19.32233 -, juris Rn. 28, wonach In Guinea "grundsätzlich in den meisten Fällen die Möglichkeit" bestehen soll, "staatlicher Verfolgung, Repressionen Dritter sowie Fällen regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Teil des Landes auszuweichen"). Der Kläger genießt grundsätzlich Freizügigkeit in ganz Guinea (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich <BFA>, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Guinea - Gesamtaktualisierung am 2. September 2019, S. 18); er kann seinen Wohn- und Aufenthaltsort somit frei bestimmen (vgl. etwa auch VG Berlin, Urteile vom 20. Dezember 2021, a.a.O., S. 11, vom 8. Dezember 2021, a.a.O., S. 13, vom 27. Oktober 2021, a.a.O., S. 12, vom 29. September 2021, a.a.O., S. 10, und vom 8. September 2021, a.a.O., Rn. 30; VG Würzburg, Urteil vom 11. Dezember 2020, a.a.O., Rn. 28). Über ein funktionierendes Meldesystem verfügt das Land nicht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Guinea vom 7. April 2021, Stand: Januar 2021, S. 18). Überdies herrscht in Guinea nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (a.a.O., S. 17) ein chronisch unzuverlässiges  Urkundenwesen mit allen damit einhergehenden Möglichkeiten der Identitätsverschleierung. Dies zugrunde gelegt, erscheint es dem Gericht - auch mit Blick auf die Einwohnerzahl und Landesfläche Guineas - fernliegend, dass der Kläger an jedem Ort in Guinea von seinen Verfolgern aufgefunden werden könnte. Auch ist es fernliegend, dass er von seinen in ... ansässigen Verfolgern bei der Einreise am Internationalen Flughafen Conakry aufgespürt werden könnte.

Für den Kläger besteht auch keine tatsächliche Gefahr, außerhalb seiner Heimatregion auf so schlechte wirtschaftliche, soziale und humanitäre Bedingungen zu stoßen, dass er am Ort des internen Schutzes mangels ausreichender Lebensgrundlage seine Existenz nicht sichern könnte und ihm deshalb eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Verelendung drohen würde (vgl. für diese Voraussetzung des internen Schutzes, die insoweit dem Maßstab des § 60 Abs. 5 AufenthG entspricht, nur BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - BVerwG 1 VR 3/17 u.a. -, Juris Rn. 92 u. 114). Die Kammer geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass gesunde, nicht besonders vulnerable Rückkehrer ohne erwerbsmindernde Erkrankungen trotz der in Guinea verbreiteten Armut und fehlender Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk in der Lage sein werden, sich mit ungelernter Arbeit so viel zu verdienen, dass sie für ihre Existenz sorgen können; das gilt auch In Anbetracht der herrschenden, durch das SARS-CoV-2-Virus ausgelösten COVID 19-/Corona-Pandemie sowie bei Berücksichtigung des jüngsten, im September 2021 erfolgten Militärputsches in Guinea und seiner möglichen Auswirkungen auf die sozioökonomische Lage in dem Land. [...]