VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Beschluss vom 24.01.2022 - 9 L 1159/21 (Asylmagazin 10-11/2022, S. 373) - asyl.net: M30615
https://www.asyl.net/rsdb/m30615
Leitsatz:

Anspruch auf Umverteilung wegen psychischer Erkrankung:

Droht beim Verbleib in der gegenwärtigen Situation die Verfestigung oder gar Verschlechterung einer Erkrankung und wird der Heilungsprozess an einem anderen Ort, z.B. aufgrund der Anwesenheit von Familienangehörigen, erleichtert oder verbessert, besteht ein Anspruch auf länderübergreifende Umverteilung gemäß § 51 Abs. 1 AsylG.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Verteilungsverfahren, Betreuer, länderübergreifende Umverteilung, psychische Erkrankung, Umverteilung, Zuweisung, Sonstige Familienangehörige, Familienangehörige, humanitäre Gründe,
Normen: AsylG § 51 Abs. 1 Alt. 2, AsylG § 51 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller hat einen Anspruch auf die Verteilung nach Bremen - insbesondere auch mit einem dem Fall der Vorwegnahme der Hauptsache genügenden - hohen Grad an Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.

Gemäß § 55 Abs. 1 Satz 2 AsylG hat ein Asylbewerber grundsätzlich keinen Anspruch darauf, sich in einem bestimmten Land oder an einem bestimmten Ort aufzuhalten. Ist ein Ausländer aber nicht oder nicht mehr verpflichtet, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, ist gemäß § 51 Abs. 1 AsylG der Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen im Sinne des § 26 Absatz 1 bis 3 AsylG oder sonstigen humanitären Gründen von vergleichbarem Gewicht auch durch länderübergreifende Verteilung Rechnung zu tragen. Die Verteilung nach § 51 Abs. 1 AsylG erfolgt nach Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift auf Antrag des Ausländers. Über den Antrag entscheidet gemäß Abs. 2 Satz 2 der Vorschrift die zuständige Behörde des Landes, für das der weitere Aufenthalt beantragt ist. [...]

Der Antragsteller hat auch mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die Verteilung nach Bremen glaubhaft gemacht.

Zwar liegt in seinem Falle keine Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen im Sinne des § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG vor, die bei der Entscheidung über den Verteilungsantrag zu berücksichtigen ist Die Vorschriften nennen als Familienangehörigen den Ehegatten oder den Lebenspartner, das minderjährige ledige Kind und die Eltern eines minderjährigen ledigen Kindes. Der volljährige ledige Antragsteller hat in Bremen weder einen Ehegatten oder Lebenspartner noch ledige minderjährige Kinder, so dass eine Haushaltsgemeinschaft hier nicht einschlägig ist.

Jedoch ist bei der Verteilung auch sonstigen humanitären Gründen von vergleichbarem Gewicht Rechnung zu tragen. Hierunter sind als Fallgruppen insbesondere Ortswünsche aufgrund gesundheitlicher Notwendigkeiten und Gegebenheiten praktisch vorstellbar. [...]

Zu den sonstigen humanitären Gründen von vergleichbarem Gewicht gehören daher auch Krankheitsgründe, da das Recht auf körperliche Unversehrtheit im Grundgesetz durch Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) verbürgt ist. Dies kann vor allem dann gelten, wenn ein Asylbewerber aufgrund Krankheit, Schwangerschaft, Alter, Gebrechlichkeit oder sonstiger Gesichtspunkte besonderer Betreuung bedarf. [...]

Liegen sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht vor, ist das der Behörde zustehende Ermessen bei der Zuweisungsentscheidung in der Regel gebunden. (,,,)

Die psychische Erkrankung eines Ausländers stellt für sich genommen grundsätzlich keinen humanitären Grund von vergleichbarem Gewicht i.S.d. § 51 Abs. 1 AsylVfG dar, wenn die Erkrankung hauptsächlich auf die Fremdheit der neuen Kultur und Umgebung zurückzuführen ist. Denn in diesem Fall befindet sich der Ausländer oftmals in der typischen Situation jedes alleinstehenden Asylbewerbers. Wenn sich aber die Erkrankung von dieser typischen Situation unterscheidet und beim Verbleib in der gegenwärtigen Situation eine Verfestigung oder gar Verschlechterung der Erkrankung zu erwarten ist, gilt etwas anderes. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine ausreichende medizinische und psychologische Versorgung zwar auch am bisherigen Aufenthaltsort gewährleistet ist, der Heilungsprozess aber in der Nähe von Familienangehörigen, die nicht zu der in § 51 Abs. 1 AsylVfG geschützten Kernfamilie gehören, erleichtert und verbessert wird. Wenn durch die Aufnahme bei einem solchen Familienangehörigen als ständige Bezugsperson die seelischen und therapeutischen Belastungen des Patienten vermindert werden und das sich positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken kann, muss dem bei einer Umverteilungsentscheidung Rechnung getragen werden. [...]

Es muss im Rahmen der Umverteilungsentscheidung insoweit bereits Berücksichtigung finden, dass die alltäglichen Belastungen durch persönlichen Beistand vermindert werden und sich so auch positiv auf (erhebliche) Krankheitsverläufe auswirken können. [...]

Das Attest endet mit der Feststellung, dass der Patient (Antragsteller) die ständige Verfügbarkeit seines in Bremen lebenden gesetzlichen Betreuers benötige, der gleichzeitig der Neffe des Patienten sei, um einerseits eine weitere seelische Stabilisierung zu erzielen und andererseits die erforderlichen Betreuungsmaßnahmen organisieren, durchzuführen und überprüfen zu können; des Weiteren verfüge der Patient bereits über eine therapeutische Anbindung; anderenorts betragen die Wartezeiten für ein psychiatrisches Erstgespräch bis zu sechs Monaten und länger; deshalb erscheine ein Transfer nach Bremen sowohl aus medizinischer als auch aus rechtlich-organisatorischer Hinsicht dringend geboten. [...]