VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 03.05.2022 - 1 V 187/22 - asyl.net: M30629
https://www.asyl.net/rsdb/m30629
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Unzulässigkeitsbescheid für auf Zypern anerkannte Familie mit Kindern:

Aufgrund der jüngsten Berichtslage ist davon auszugehen, dass die Abschiebung einer Familie mit zwei kleinen Kindern aufgrund mangelhafter Aufnahmebedingungen nicht zulässig wäre.

(Leitsatz der Redaktion; unter Bezugnahme auf: Aida Country Report Cyprus, April 2022)

Schlagwörter: Zypern, internationaler Schutz in EU-Staat, ausländische Anerkennung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, VwGO § 80 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Ob die von den Antragstellern vorgelegten Zeitungsmeldungen auf veränderte Umstände verweisen, kann dahinstehen. Jedenfalls ist mit Blick auf den jüngsten AIDA Country Report für Zypern vom April 2022 (aida, Country Report: Cyprus, 2021 Update) davon auszugehen, dass die inzwischen gegebenen Verhältnisse auf Zypern die frühere Interessenabwägung korrekturbedürftig erscheinen lassen.

Der gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 11.5.2021 gerichtete Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet. [...]

Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) ist davon auszugehen, dass eine Abschiebung der Antragsteller wegen der in Bezug auf ihre spezifische Situation zu bejahenden Mängel hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte nicht zulässig wäre.

Das Gericht geht hierbei von den folgenden jüngsten Erkenntnissen aus: Nach ihrer Anerkennung haben international Schutzberechtigte grundsätzlich ebenso wie zypriotische Staatsbürger Anspruch auf finanzielle Unterstützung in Form des gesetzlich garantierten Mindesteinkommens (Guaranteed Minimum Income (GMI), sofern sie ihren Lebensunterhalt nicht durch eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen können, was in den allermeisten Fällen nicht möglich ist. Es entstehen allerdings bei der Prüfung der Anträge in der Praxis erhebliche Verzögerungen, die im Jahr 2021 inzwischen bis zu 12 Monate dauern konnten. Dies betrifft auch vulnerable oder obdachlose Personen. Es kann dann lediglich eine Notfallhilfe zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse beantragt werden, die jedoch mit 100-150 Euro im Monat/pro Person bzw. 150-280 Euro im Monat/pro Familie extrem niedrig ist. Der Betrag wird erst nach Bewilligung und nicht im Voraus ausgezahlt. Die Bewilligung einer solchen Nothilfe kann 1-2 Wochen in Anspruch nehmen und sie ist jeden Monat neu zu beantragen. Das GMI sieht zudem keine Mittel für Unterbringung vor, solange keine konkrete Unterkunft durch den Betroffenen angemietet worden ist. Dies erweist sich in der Praxis als äußerst schwierig, da die Mietpreise stark gestiegen sind, die Mietkaution vom GMI nicht umfasst ist und Schutzberechtigte aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in der Regel nur schwer eine Arbeit finden können. [...]

Bezogen auf die Antragsteller, eine türkische Familie mit zwei fünfjährigen Kindern, ist nach gegenwärtigem Verfahrensstand prognostisch davon auszugehen, dass sie auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen sein werden. [...] Ob die Antragsteller zur Not in einem Aufnahmezentrum unterkommen könnten, erscheint offen, da nach der Auskunftslage zwar der weitere Verbleib im Aufnahmezentrum nach der Schutzzuerkennung ermöglicht wird, aber nicht auszuschließen ist, dass diese Möglichkeit in erster Linie denen gewährt wird, die zuvor schon dort gewohnt haben. Dass es den Antragstellern zu 1) und 2) nach ihrer Rückkehr nach Zypern abhängig von ihrem eigenen Willen wiederum gelingen kann, eine Unterkunft für sich und die minderjährigen Antragsteller zu 3) und 4) sicherzustellen, lässt sich nicht mit hinreichender Sicherheit bejahen. Hierbei sind nicht nur die erschwerten Bedingungen der Antragsteller auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt als türkischen Staatsangehörigen einerseits und der Gülen-Bewegung nahestehenden Personen andererseits zu berücksichtigen, sondern auch die nach der Auskunftslage inzwischen ungünstigeren Bedingungen, was den tatsächlichen Zugang zum Sozialhilfesystem anlangt. Lag die längste beobachtete Antragsbearbeitungsdauer im Jahr 2020 noch bei 6 Monaten (aida, Country Report: Cyprus, update 2020, S. 142), betrug sie im Jahr 2021 das Doppelte, nämlich 12 Monate (vgl. aida, Country Report: Cyprus, update 2021 , S. 155). Da die Bewilligung der Nothilfe, die die Antragsteller wohl beanspruchen könnten, ein bis zwei Wochen in Anspruch nehmen kann und jeden Monat neu zu beantragen ist, besteht die Gefahr, dass die Befriedigung elementarster Bedürfnisse für die Dauer der Bearbeitung des GMI-Antrags jeden Monat erneut infrage gestellt ist. [...]