VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 26.04.2022 - 10 L 52/21.A - asyl.net: M30630
https://www.asyl.net/rsdb/m30630
Leitsatz:

Eilrechtsschutz wegen Abschiebungsverbots hinsichtlich Somalias:

1. In Somalia herrscht in fast allen Landesteilen eine verheerende Dürre und eine Hungerkrise.

2. Rückkehrende können nicht frei agieren, sondern müssen darauf achten, durch angepasstes Verhalten weder der Al-Shabaab noch den Regierungskräften aufzufallen, was ihre Versorgungsmöglichkeiten einschränkt. Überdies sind ihre Erwerbsmöglichkeiten durch die Konkurrenz einer großen Zahl rückkehrender Binnenvertriebener eingeschränkt.

3. In Somalia und der Hauptstadt Mogadischu kommt es neben Anschlägen auch immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Es besteht eine hohe Gefahr, Opfer von Terrorismus zu werden, sowie eine erhebliche Gefährdung durch Kampfhandlungen, Piraterie sowie kriminell motivierte Gewaltakte. Es fehlen funktionierende staatlichen Stellen, die im Falle einer Notlage Hilfe leisten könnten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Abschiebungsverbot, Zweitantrag, Hunger, Dürre, Versorgungslage, Existenzgrundlage, willkürliche Gewalt, Piraterie, Terrorismus,
Normen: AsylG § 71a Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Es bestehen hier unter Zugrundelegung der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ernstliche Zweifel (§ 36 Abs. 4 AsylG) an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach Somalia. Denn dem Antragsteller steht diesbezüglich ein Abschiebungshindernis gem. § 60 Abs. 5 AufenthG zur Seite. [...]

Im Falle einer Rückkehr nach Somalia wäre der Antragsteller einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt. Somalia zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Nach dem Bericht des Tagesspiegels vom 12. Mai 2017, S. 5 "steht Somalia zum dritten Mal seit Anfang der 1990er Jahre im Zentrum einer Hungerkrise. 1992/93, direkt nach dem Zusammenbruch des Staates, führte eine Dürre zu einer schweren Hungersnot, ebenso im Jahre 2011. Rund 250.000 Menschen sind damals verhungert. Und nun nach den Jahren der Dürre, des Terrors und der Unsicherheit haben die meisten in Somalia verbliebenen Menschen erneut keine Reserven mehr, um der aktuellen Hungersnot zu trotzen .... Selbst wenn die internationale Gemeinschaft bei der Geberkonferenz hunderte Millionen Dollar zusagen sollte - allein Deutschland will die humanitäre Hilfe von 70 auf 140 Millionen Euro verdoppeln -, dürfte es schwer werden, die aktuell rund 6,7 Millionen vom Hunger bedrohten Somalis zu versorgen." Nach dem Bericht des Spiegel online vom 11. Mai 2017 herrscht - anders als vor 6 Jahren - die Notlage nicht nur in Teilen des Landes, sondern fast überall. "Die Dürre ist verheerend - viel schlimmer als 2011," sagt der Leiter der britischen Hilfsorganisation Oxfam in Ostafrika dem Bericht zufolge. Die Frankfurter Rundschau spricht in einem Bericht vom 6. April 2017 nicht nur von einer drohenden Hungersnot, sondern auch von einer beginnenden Choleraepidemie.

Auch nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes vom Januar 2017 ist die Versorgungslage in Somalia als sehr kritisch zu bewerten. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist danach nicht gewährleistet. Es gibt keinen sozialen Wohnraum oder Sozialhilfe. Hilfsprojekte erreichen in der Regel nicht die gesamte Bevölkerung. Trotz großer internationaler humanitärer Kraftanstrengung habe es während der letzten Dürre viele Hungertote gegeben. Es gibt keine Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrerinnen und Rückkehrer. Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft.

Der EGMR (EGMR, a.a.O., Rdn. 292) führt aus, dass ein Zurückgeführter, der in Somalia in einem Lager Zuflucht suchen muss, wegen der unerträglichen humanitären Verhältnisse tatsächlich der Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt ist.

Bei der Bewertung der entsprechenden Möglichkeiten von Rückkehrern nach Somalia ist zudem zu berücksichtigen, dass sie nicht frei agieren können, sondern darauf achten müssen, durch angepasstes Verhalten weder der Al Shabab noch den Regierungskräften aufzufallen, was ihre Versorgungsmöglichkeiten noch weiter einschränkt. überdies sind ihre Erwerbsmöglichkeiten besonders eingeschränkt durch die Konkurrenz mit der erheblichen Zahl von rückkehrenden Binnenvertriebenen. [...]

Im Übrigen kommt es nach der aktuellen Reisewarnung des Auswärtigen Amtes (Stand 11. März 2021) in Somalia und der Hauptstadt Mogadischu neben Anschlägen auch immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Neben der hiernach bestehenden hohen Gefahr, Opfer von Terrorismus zu werden, besteht eine erhebliche Gefährdung durch Kampfhandlungen, Piraterie sowie kriminell motivierte Gewaltakte. Im Falle einer Notlage fehlen weitgehend funktionierende staatliche Stellen, die Hilfe leisten könnten. Der Aufenthalt in Somalia ist nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes grundsätzlich sehr gefährlich. [...]