VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 30.03.2022 - 2 K 2757/18.A - asyl.net: M30633
https://www.asyl.net/rsdb/m30633
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung aufgrund geschlechtsspezifischer (Vor-)Verfolgung durch Bedienstete der aserbaidschanischen Polizei:

Einer Frau, die von Polizeibediensteten in Aserbaidschan vergewaltigt worden ist, ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Nach einer Rückkehr nach Aserbaidschan droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute Vergewaltigung durch die damaligen Peiniger und damit eine erneute geschlechtsspezifische Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aserbaidschan, geschlechtsspezifische Verfolgung, politische Verfolgung, staatliche Verfolgung, Polizei, sexuelle Gewalt, sexualisierte Gewalt
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 1
Auszüge:

[...]

a. Der Klägerin zu 2. steht im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf ihr Herkunftsland Aserbaidschan zu. [...]

bb. In Anwendung dieser Grundsätze hat die Klägerin zu 2. in ihrem konkreten Einzelfall Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht ist auf der Grundlage ihres Vortrags im in der mündlichen Verhandlung und nach Auswertung der im Gerichtsverfahren vorgelegten, von der Diplom-Psychologin … unter dem … 2019 erstellten gutachterlichen Stellungnahme davon überzeugt, dass sie ihr Herkunftsland aufgrund geschlechtsspezifischer (Vor-)Verfolgung durch Bedienstete der aserbaidschanischen Polizei verlassen hat und sie im Falle einer Rückkehr weiter von geschlechtsspezifischer Verfolgung bedroht ist.

Die Klägerin zu 2. hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, im Frühjahr 2017 in ihrer Wohnung im Beisein ihres Sohnes - dem Kläger zu 3. - von drei Polizisten brutal vergewaltigt worden zu sein. Dabei hat sie das Geschehen vom Eintreffen der Polizisten bis zum Beginn der Vergewaltigung ebenso detailliert geschildert wie das Geschehen, nachdem die Polizisten von der Klägerin zu 2. abgelassen hatten. Dass die Klägerin zu 2. die Einzelheiten der Vergewaltigung selbst nicht beschrieben hat, lässt sich nachvollziehbar mit dem Schamgefühl der Klägerin zu 2., ihrer Prozessbevollmächtigten, der Dolmetscherin und insbesondere dem (männlichen) Einzelrichter gegenüber intime Details der für sie traumatisierenden Vergewaltigung offenbaren zu sollen, erklären und spricht daher nicht gegen die Glaubhaftigkeit des diesbezüglichen Vortrags. Ebenso für glaubhaft hält das Gericht den Vortrag der Klägerin zu 2. im Einzelrichtertermin, wonach sie einige Zeit nach der Vergewaltigung zur Polizei gebracht und dort beschimpft sowie damit bedroht worden sei, dass man eine Videoaufnahme der Vergewaltigung bei YouTube hochladen werde. [...]

Kommt der Klägerin zu 2. nach alledem aufgrund der Vorverfolgung die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 QRL zugute, kann das Gericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung keine stichhaltigen Gründe für eine Widerlegung dieser Vermutung erkennen. Im Gegenteil ist der Einzelrichter davon überzeugt, dass ihr nach einer Rückkehr nach Aserbaidschan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute Vergewaltigung durch die damaligen Peiniger und damit eine erneute geschlechtsspezifische Verfolgung drohen würde. Denn da die Klägerin zu 2. - wie sie in der mündlichen Verhandlung ebenfalls zur Überzeugung des Einzelrichters glaubhaft erklärt hat - ihrem Mann, dem Kläger zu 1., aus Scham nichts von der Vergewaltigung erzählt hat, dieser daher nichts von dem der Klägerin zu 2. vor der Ausreise Widerfahrenem weiß, und sie auch zukünftig ihrem Mann nichts von der Vergewaltigung erzählen möchte, ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 2. mit ihrer Familie im Fall der Rückkehr nach Aserbaidschan im alten Umfeld Aufenthalt nehmen würde. Dort aber bestünde ständig die Gefahr, auf die damaligen Täter zu treffen oder sogar von diesen aufgesucht zu werden. Wegen der Unkenntnis des Klägers zu 1. scheidet insbesondere auch die Erlangung internen Schutzes im Sinne von § 3e AsylG aus. Mit Blick darauf, dass die Klägerin zu 2. von Polizisten vergewaltigt wurde, ist es ihr auch nicht zuzumuten, bei der Polizei oder anderen staatlichen Stellen um die Gewährung von Schutz im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, 3d AsylG nachzusuchen. [...]