VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 25.01.2022 - 6 K 2497/21.TR - asyl.net: M30655
https://www.asyl.net/rsdb/m30655
Leitsatz:

Keine Rückführung einer vulnerablen Schutzberechtigten nach Bulgarien:

Eine alleinstehende, körperlich erkrankte Frau fortgeschrittenen Alters (hier: 55 Jahre) ohne Berufserfahrung und mit geringem Bildungsstand wird nicht in der Lage sein, sich in Bulgarien selbständig eine Existenz aufzubauen. Ohne Perspektive auf Erlangung einer Arbeitsstelle droht konkret Obdachlosigkeit.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, besonders schutzbedürftig, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit, Erkrankung, Krankheit, Existenzminimum,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

2. Allerdings darf die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht ergehen, wenn dem anerkannt Schutzberechtigten im Falle einer Abschiebung in den Staat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - GRC - bzw. Art. 3 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - droht (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - Rs. C 297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, Ibrahim u.a. -, juris, Rn. 88 f. m.w.N.; zuletzt auch BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020, a.a.O., Rn. 15). Eine solche Rechtsverletzung droht der Klägerin im vorliegenden Einzelfall bei unterstellter Rückkehr nach Bulgarien. [...]

Insbesondere auf Grundlage des in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnenen Eindrucks und ihrer medizinischen Unterlagen ist im vorliegenden Einzelfall nicht davon auszugehen, dass sich diese den schwierigen Bedingungen in Bulgarien stellen kann. Ihr droht daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Obdachlosigkeit.

Grundsätzlich herrschen für anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien allgemein schwierige, aber nicht generell unzumutbare Bedingungen (vgl. hierzu OVG RP, Beschluss vom 17. März 2020 - 7 A 10903/18 -, juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 7. Dezember 2021 - 10 LB 257/20 -, juris). Aufgrund des vergleichsweise geringen Sozialhilfeangebotes und des schwierigen Wohnungsmarktes müssen sich die anerkannt Schutzberechtigten ihren Lebensunterhalt grundsätzlich durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit langfristig selbst sichern. Trotz der gegenwärtigen Covid-Pandemie bietet der bulgarische Arbeitsmarkt gute Möglichkeiten für anerkannt Schutzberechtigte, dort auch eine Anstellung zu finden (vgl. hierzu OVG RP, Beschluss vom 17. März 2020, a.a.O., Rn. 59 ff.; OVG Lüneburg, Urteil vom 7. Dezember 2021, a.a.O., Rn. 30 ff.). Dies erfordert gegebenenfalls eine gewisse Flexibilität hinsichtlich der Art der Arbeit und dem Ort der Anstellung.

Ausgehend hiervon ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin in der Lage sein wird, in Bulgarien ihre Existenz durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sicherzustellen. Mit fast 55 Jahren ist sie zwar grundsätzlich noch im erwerbsfähigen Alter, sie hat aber körperliche Einschränkungen. Insbesondere fallen hierbei ihre wiederkehrenden Schmerzen im Unterleib bzw. die Entzündungen der Nieren, die Probleme mit ihrer Halswirbelsäule, die auch zu neurologischen Einschränkungen - Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schwindel - führen und das Herzrasen ins Gewicht. [...] Diese fortwährenden Unterleibprobleme und die Funktionsstörungen der Halswirbelsäule einhergehend mit dem Herzrasen und dem zumindest fortgeschrittenen Alter der Klägerin senken ihre körperliche Belastbarkeit und damit auch ihre Erwerbsfähigkeit deutlich herab und schränken das mögliche Spektrum in Frage kommender Berufe erheblich ein. Insbesondere scheiden so zahlreiche körperlich beanspruchende Berufe des Niedriglohnsektors - der aber für anerkannt Schutzberechtigte ohne Ausbildung regelmäßig besonders wichtig ist - aus, etwa in der Landwirtschaft und der Gastronomie.

Darüber hinaus ist die Klägerin kaum zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage und verfügt über einen sehr geringen Bildungsstand. Sie hat keine Schule besucht, kann nicht lesen und schreiben und verfügt über keine Berufsausbildung. [...]

In Ermangelung bulgarischer Sprachkenntnisse, der gesundheitlichen Einschränkungen und in Anbetracht der fehlenden Fähigkeit zur selbstständigen Lebensführung ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin zeitnah oder gar mittelfristig eine Arbeitsstelle in Bulgarien finden und sich so selbstständig eine Existenz aufbauen und sichern kann. Ohne Perspektive auf Erlangung einer solchen Arbeitsstelle droht der Klägerin konkret die Obdachlosigkeit. [...]