VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 31.03.2022 - 5 A 110/21 HAL - asyl.net: M30766
https://www.asyl.net/rsdb/m30766
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Apostasie für Person aus Afghanistan:

Einer Person, die aufgrund einer inneren Abkehr vom Islam frei von jeglichen religiösen Regeln leben will und deshalb nicht in der Lage sein wird, sich bei einer Rückkehr in die afghanische Gesellschaft einzufügen, droht Verfolgung aus religiösen Gründen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Apostasie, Abfall vom Islam, religiöse Verfolgung, Religion, Taliban
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Kläger aufgrund seines Abfalls vom Islam mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in objektiver und subjektiver Hinsicht eine schwerwiegende Verletzung seiner Religionsfreiheit. [...]

Dem Kläger droht Verfolgung aus religiösen Gründen. Er ist - wie sich aus dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ergeben hat - vom Islam abgefallen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung legte der Kläger ausführlich dar, worauf seine Apostasie gründet und wie diese in zeitlicher Hinsicht abgelaufen ist. Aus dem im Rahmen der mündlichen Verhandlung dargelegten Verhalten des Klägers können Rückschlüsse auf seine innere Einstellung gezogen werden. Zwar lässt sich nicht vollständig ausschließen, dass das Verhalten des Klägers auch asyltaktisch bedingt war. Aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung entnimmt die Einzelrichterin aber die Überzeugung, dass der Kläger sich vollständig und endgültig vom Islam abgewendet hat. Sein religiöser Findungsprozess ist dementsprechend fortgeschritten, dass mit einer "Rückkehr" zum Islam nicht zu rechnen ist. Die damit verbundenen religiösen Praktiken und Glaubensinhalte werden vom Kläger abgelehnt. [...]

Im Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass der Kläger sich aufgrund seiner inneren Abkehr vom Islam bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in die afghanische Gesellschaft einfügen wird, indem er die religiösen Normen erfüllt und den vorgeschriebenen Riten nachkommt. Der Kläger legte vielmehr glaubwürdig dar, dass er im Ergebnis seines religiösen Findungsprozesses frei von jeglichen religiösen Regeln leben will. Dass er zu dieser Entscheidung. auch äußerlich steht, zeigt sich auch darin, dass er seiner Familie den Entschluss der Apostasie mitteilte und seitdem damit lebt, dass sich diese von ihm abgewandt hat und keinerlei Kontakt mehr besteht. [...]

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das erkennende Gericht nach der informatorischen Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass bei dem Kläger ein Abfall vom Islam festzustellen ist. Der Kläger hat am 31. März 2022 gegenüber dem Gericht glaubhaft dargelegt, dass der Abfall vom Islam da.s Ergebnis einer kontinuierlichen persönlichen Entwicklung gewesen ist, die bereits in seinen jungen Jahren ihren Anfang genommen hat. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung detailreich und nachvollziehbar dargelegt, dass verschiedene Ereignisse im Laufe seines Lebens zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Religion des Islam beigetragen und im Laufe der Jahre zu einer immer größer werdenden Distanzierung geführt haben, die letztendlich in Europa zu einer endgültigen Abkehr vom Islam geführt haben. [...]