OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 10.06.2022 - 10 LA 77/22 - asyl.net: M30785
https://www.asyl.net/rsdb/m30785
Leitsatz:

Keine unmenschliche Behandlung Anerkannter, wenn im schutzzuerkennenden Staat die Möglichkeit irregulärer Arbeit besteht:

"Bestehen keine hinreichenden Erkenntnisse darüber, dass der Staat, in den der Flüchtling rücküberführt werden soll, effektiv gegen Schwarzarbeit vorgeht und dass dem Flüchtling dort aus diesem Grund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung droht, kann er zur Existenzsicherung auch auf eine Tätigkeit im Bereich der sogenannten Schattenwirtschaft verwiesen werden."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf BVerwG, Beschluss vom 27.01.2022 - 1 B 93.21 - bverwg.de; siehe auch: BVerwG, Beschluss vom 27.01.2022 - 1 B 89.21 - asyl.net: M30406; anderer Ansicht: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1689/20.A (Asylmagazin 10-11/2021, S. 371 ff.) - asyl.net: M29901)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, Existenzgrundlage, Schwarzarbeit, illegale Arbeit, irreguläre Arbeit, Schattenwirtschaft, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

13 Soweit der Kläger hinsichtlich der Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme in Italien ausgeführt hat, er werde im Falle seiner Rücküberstellung entgegen der Prognose des Verwaltungsgerichts auch durch eigene Erwerbstätigkeit nicht in der Lage sein, sich selbst die finanziellen Mittel für sein Überleben zu verdienen, hat er lediglich andere Schlussfolgerungen aus dem auch vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 10. Juni 2021 gezogen. Während der Kläger meint, wegen der hohen Arbeitslosenrate sei es schon für Italiener schwierig, eine Arbeit in Italien zu finden, für Flüchtlinge gelte dies ohne Zweifel umso mehr, hat das Verwaltungsgericht aus diesem geschlussfolgert, dass unter Berücksichtigung der Ausführungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe die durch den Europäischen Gerichtshof gesetzte hohe Schwelle für eine Verletzung von Art. 4 GRC im konkreten Einzelfall des Klägers nicht überschritten sei. [...] Soweit er in diesem Zusammenhang wieder auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juli 2021 (– 11 A 1689/20.A –, juris) Bezug nimmt, wonach es sich von vornherein verbiete, Asylsuchende auf die Möglichkeit der Schwarzarbeit zur Existenzsicherung zu verweisen (juris Rn. 137), folgt der Senat dem jedenfalls dann nicht, wenn keine hinreichenden Erkenntnisse darüber vorliegen, dass der betreffende Mitgliedstaat effektiv gegen Schwarzarbeit vorgeht und dem Flüchtling mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung droht (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 27.1.2022 – 1 B 93.21 –, juris Rn. 26). Denn in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat sich anschließt, ist jedenfalls für diesen Fall geklärt, dass das wirtschaftliche Existenzminimum immer dann gesichert ist, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können, wobei zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten auch Tätigkeiten zählen, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind (BVerwG, Beschluss vom 27.1.2022 – 1 B 93.21 –, juris Rn. 25 m.w.N.). [...]