OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 07.07.2022 - 2 B 104/22 - asyl.net: M30825
https://www.asyl.net/rsdb/m30825
Leitsatz:

Zur Zuständigkeit für die länderübergreifende Umverteilung unerlaubt eingereister Personen:

1. Für eine länderübergreifende Weiter- oder Rückverteilung unerlaubt eingereister Personen nach § 15a Abs. 5 S. AufenthG ist grundsätzlich das Land zuständig, in das die betroffene Person zuvor nach § 15a Abs. 4 S. 1 AufenthG verteilt wurde.

2. Etwas anderes gilt dann, wenn sich die betroffene Person noch in dem Land aufhält, aus dem sie nach § 15a Abs. 4 S. 1 AufenthG herausverteilt worden ist, aber die Androhung der Vollstreckung der Erstverteilentscheidung aufgehoben wurde, weil ein Vollstreckungshindernis besteht. 

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 13.09.2022 - 13 ME 150/22 - asyl.net: M30977)

Schlagwörter: Zuständigkeit, Duldung, Verteilungsverfahren, länderübergreifende Umverteilung, unerlaubte Einreise, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, Umverteilung, Vollstreckungshindernis, Androhung der Vollstreckung aufgehoben,
Normen: AufenthG § 15a Abs. 5 S. 1, AufenthG § 15a Abs. 4 S. 1, AufenthG § 15a Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

aa. Die Antragsgegnerin ist für die Entscheidung nach § 15a Abs. 5 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise örtlich zuständig. Für die Entscheidung besteht eine Verbandszuständigkeit des Landes Bremen und die Antragsgegnerin ist die hierfür sachlich zuständige Behörde.

(1.) Allerdings ist für eine länderübergreifende Weiter- oder Rückverteilung nach § 15a Abs. 5 AufenthG grundsätzlich eine Behörde des Landes zuständig, in das der Betroffene zuvor nach § 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG verteilt wurde (so wohl auch Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, § 15a AufenthG Rn. 39 f.; OVG Hamburg, Beschl. v. 10.03.2016 - 4 Bs 3/16, Rn. 23). Der gegenteiligen Auffassung, wonach die Entscheidung über einen nach § 15a Abs. 5 AufenthG gestellten Umverteilungsantrag stets von einer Behörde des Landes zu treffen ist, in welches der Zuzug begehrt wird (so OVG LSA, Beschl. v. 07.10.2014 - 2 L 152/13, juris Rn. 8 ff.; OVG Bln-Bbg: Urt. v. 09.04.2014 - 3 B 33.11, juris Rn. 21 ff.) schließt der erkennende Senat sich nicht an. [...]

(2.) Mangels anderslautender Kompetenzregelungen in § 15a Abs. 5 AufenthG folgt die Verbandskompetenz der Bundesländer daher aus einer entsprechenden Anwendung der zur örtlichen Zuständigkeit getroffenen Regelungen in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 - 1 C 5.11 , juris Rn. 17 f.; OVG Bremen, Beschl. v. 17.09.2020 - 2 B 148/20, juris Rn. 11). Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3a BremVwVfG und den gleichlautenden niedersächsischen Regelungen (§ 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG) richtet sich die örtliche Zuständigkeit - und entsprechend dazu die Verbandskompetenz- in Angelegenheiten, die eine natürliche Person betreffen, nach dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt.

Bei der Bestimmung des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts sind auch ausländerrechtliche Regelungen zu berücksichtigen, die den Verbleib des Betroffenen an einem bestimmten Ort beeinflussen (OVG Bremen, Beschl. v. 17.09.2020 - 2 B 148/20, juris Rn. 12). Bei Ausländern, die der Verteilung nach § 15a AufenthG unterliegen, werden der gewöhnliche Aufenthalt und ihm folgend die örtlich zuständige Ausländerbehörde zunächst durch die Verteilungsentscheidung bestimmt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 07.06.2018 - 1 B 92/18, juris Rn. 13; Beschl. v. 02.03.2017 - 1 B 331/16, juris Rn 16). Daraus folgt, dass ein unerlaubt eingereister Ausländer auch dann, wenn er einer sofort vollziehbaren oder bestandskräftigen Verteilungsentscheidung nicht nachkommt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt bis zu einer etwaigen landesinternen Weiterverteilung am Ort der durch die Verteilung festgelegten Aufnahmeeinrichtung hat (§ 15a Abs. 4 Sätze 1 und 4 AufenthG). Für einen Umverteilungsantrag nach § 15a Abs. 5 AufenthG, der nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ohnehin nur bis zur erstmaligen Aussetzung der Abschiebung gestellt werden kann (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 01.06.2022 - 2 B 440/21, zur Veröffentlichung vorgesehen), liegt die Verbandskompetenz daher im Regelfall bei dem Bundesland, in dem die durch die Erstverteilung festgelegte Aufnahmeeinrichtung liegt. Das wäre hier Niedersachsen.

Dieser Grundsatz bedarf jedoch der Modifikation in den Fällen, in denen - wie im Fall des Antragstellers - die Androhung der Vollstreckung der Erstverteilungsentscheidung aufgehoben wurde, weil ein Vollstreckungshindernis besteht. Hier wäre die Annahme einer örtlichen Zuständigkeit der Ausländerbehörde an dem durch die Erstverteilungsentscheidung bestimmten Ort nicht mehr mit der Definition eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des§ 3 Abs. 1 Nr. 3a BremVwVfG vereinbar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfolgt die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts nämlich nicht auf der Grundlage einer rein rechtlichen Betrachtungsweise. Erforderlich ist vielmehr eine in die Zukunft gerichtete Prognose, die alle in Betracht kommenden Umstände berücksichtigt (BVerwG, Urt. v. 02.04.2009 - 5 C 2.08 - , BVerwGE 133, 320-329, Rn. 24). Für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts genügt es, dass der Betroffene sich an dem Ort oder in dem Gebiet "bis auf weiteres" im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (BVerwG, Urt. v. 02.04.2009 - 5 C 2.08 -, BVerwGE 133, 320-329, Rn. 22; Urt. v. 07.07.2005 - 5 C 9.04, juris Rn. 14). Jedenfalls in Fällen wie dem Vorliegenden, in dem eine Vollstreckung der Verteilungsentscheidung infolge eines Vollstreckungshindernisses aufgrund der bestandskräftigen Aufhebung der Zwangsmittelandrohung auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird, lässt sich die Prognose, dass der Ausländer sich an seinem derzeitigen Wohnort nicht zukunftsoffen aufhält, nicht aufrechterhalten. Die für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts im Regelfall erforderliche ausländerrechtliche Gestattung, sich dort aufzuhalten, wird dann durch die in der gerichtlichen Aufhebung der Zwangsmittelandrohung zum Ausdruck kommenden Bewertung ersetzt, dass ein Vollzug der Verteilungsentscheidung aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Unmöglichkeit - hier unter Berücksichtigung des Rechts des Antragstellers auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG - auf absehbare Zeit nicht erfolgen kann. Dann liegt die Verbandskompetenz bei dem Bundesland, in dem der Ausländer tatsächlich seinen Wohnort genommen hat und an dem das Vollstreckungshindernis besteht. [...]