VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 19.08.2021 - 6 K 5451/18.GI.A - asyl.net: M30848
https://www.asyl.net/rsdb/m30848-1
Leitsatz:

Unzulässiger Asylantrag bei Übergang der Verantwortung für als Flüchtling anerkannte Personen:

"Der Aufenthalt eines Asylbewerbers in der Bundesrepublik Deutschland länger als sechs Monate nach dem Ablauf eines in einem Vertragsstaat des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16.10.1980 [EATRR] aufgrund der dortigen Flüchtlingsanerkennung ausgestellten Reiseausweises führt zu einem Zuständigkeitsübergang der Verantwortung für den Flüchtling gemäß Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 des Abkommens.

Nach dem Zuständigkeitsübergang ist ein in der Bundesrepublik Deutschland gestellter Asylantrag unabhängig von den Aufnahmebedingungen in dem Vertragsstaat gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig [...].

Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bezüglich Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG, einer Abschiebungsandrohung und einem Einreise- und Aufenthaltsverbot sind aufzuheben.

Dem Ausländer ist von der Ausländerbehörde entsprechend § 25 Abs. 2 S. 1 AufenthG eine Aufenthalts­erlaubnis zu erteilen."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 30.03.2021 - 1 C 41.20 (Asylmagazin 9/2021, S. 336 ff.) - asyl.net: M29949)

Schlagwörter: Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, Abschiebungsverbot, Unzulässigkeit, internationaler Schutz in EU-Staat, Straßburger Übereinkommen, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsandrohung, Zuständigkeitsübergang,
Normen: EATRR Art. 2 Abs. 3, EATRR Art. 2 Abs. 1, EATRR Art. 4 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz gewährt hat. Hier ist die Klägerin in Italien als Flüchtling anerkannt worden. [...]

Für die Feststellung der Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung in dem angefochtenen Bescheid kann hier offen bleiben, ob der Klägerin im Falle einer Abschiebung nach Italien dort aufgrund der Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen eine gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh verstoßende Situation extremer materieller Not drohen würde [...]. Zwar hat der Europäische Gerichtshof mit Beschluss vom 13.11.2019 (Az. C-540/17 u.a., juris) entschieden, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU (Rückführungsrichtlinie) es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. Vorliegend ist aber die Zuständigkeit für die Klägerin als Flüchtling gemäß dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16.10.1980 (Gesetz vom 30.9.1994, BGBl II 1994, S. 2645, - FlüVÜbk -) auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Mit einem solchen Verantwortungsübergang beansprucht die statusrechtliche Zuerkennungsentscheidung des Staates, der dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, auch in dem Staat, in dem sich der Flüchtling rechtmäßig niedergelassen hat, Geltung, so dass gemäß § 60 Abs. 1 S. 2 AufenthG kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht (s. BVerwG, Urteil vom 30.3.2021, Az. 1 C 41/20, juris).

Gemäß Art. 2 Abs. 1 FlüVÜbk gilt die Verantwortung für einen Flüchtling nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Zweitstaat mit Zustimmung von dessen Behörden oder zu einem früheren Zeitpunkt als übergegangen, wenn der Zweitstaat dem Flüchtling gestattet hat, entweder dauernd oder länger als für die Gültigkeitsdauer des Reiseausweises in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben. Ferner gilt nach Art. 2 Abs. 3 des Abkommens die Verantwortung auch dann als übergegangen, wenn die Wiederaufnahme des Flüchtlings durch den Erststaat nach Art. 4 nicht mehr beantragt werden kann und wird nach Art. 4 Abs. 1 der Flüchtling, solange die Verantwortung nicht nach Art. 2 Abs. 1 und 2 übergegangen ist, jederzeit im Hoheitsgebiet des Erststaates wieder aufgenommen, selbst nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises. Im letzteren Fall erfolgt die Wiederaufnahme auf einfachen Antrag des Zweitstaates unter der Bedingung, dass der Antrag innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises gestellt wird.

Vorliegend ist zwar bezüglich der Klägerin kein Zuständigkeitsübergang nach Art. 2 Abs. 1 FlüVÜbk eingetreten, auch wenn sie sich seit Ende 2014 der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Denn eine Gestattung dieses Aufenthaltes im Sinne des Art. 2 Abs. 1 des Abkommens ist insoweit nicht gegeben. Eine asylverfahrensrechtliche Aufenthaltsgestattung bzw. Duldung genügt insoweit nicht [...]. Hier liegt aber ein Zuständigkeitsübergang gemäß Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 des Abkommens vor [...], da sich die Klägerin länger als sechs Monate nach Ablauf der Gültigkeit ihres in Italien aufgrund der dortigen Flüchtlingsanerkennung ausgestellten Reiseausweises in der Bundesrepublik Deutschland aufhält [...]. Ob der Reiseausweis aufgrund eines dahingehenden Antrags der Klägerin voraussichtlich verlängert worden wäre, ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Die genannten Vorschriften stellen allein auf den Ablauf der Gültigkeit ab und nicht eine etwaige Verlängerbarkeit. [...]

Schließlich liegen hier auch die Voraussetzungen für eine Verlängerung Sechsmonatsfrist des Artikels 4 Abs. 1 FlüVÜbk nicht vor. Zwar müssen nach Artikel 4 Abs. 2 des Abkommens die Behörden des Zweitstaates, wenn ihnen der Aufenthalt des Flüchtlings unbekannt ist, den Antrag innerhalb von sechs Monaten nach dem Zeitpunkt stellen, in dem der Zweitstaat von dem Verbleib des Flüchtlings Kenntnis erhalten hat, spätestens jedoch zwei Jahre nach Ablauf der Gültigkeit des Reiseausweises. Zum einen war hier aber den deutschen Behörden der Aufenthaltsort der Klägerin nicht unbekannt. Zum anderen findet letztere Bestimmung gegenüber Italien keine Anwendung, da es insoweit von dem Vorbehalt gemäß Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit der Anlage des Abkommens Gebrauch gemacht hat (s. die Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Abkommens vom 14.6.1995, BGBl. II 1995, S. 540).

Die in Nr. 2 des angefochtenen Bescheides enthaltene Feststellung bezüglich des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ist aufgrund des Übergangs der Zuständigkeit für die Klägerin als Flüchtling auf die Bundesrepublik Deutschland - deklaratorisch - aufzuheben und ihr Hilfsantrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung solcher Verbote hinsichtlich Italien abzuweisen. [...]

Zwar folgt aus einer außerhalb der Bundesrepublik Deutschland erfolgten Flüchtlingszuerkennung kein unmittelbares Aufenthaltsrecht in Deutschland. § 60 Abs. 1 AufenthG bestimmt dazu lediglich, dass der Betreffende nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben werden darf (S. 2) und, dass das Bundesamt insoweit keine Feststellung zu treffen hat (S. 3). Ferner setzt nach dem Wortlaut des § 25 Abs. 2 S. 1 AufenthG die Erteilung einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt voraus. Diese Vorschrift ist aber im vorliegenden Fall erweiternd auszulegen. Denn mit dem Übergang der Zuständigkeit auf die Bundesrepublik Deutschland ist ein Flüchtling den im Inland vom Bundesamt anerkannten Flüchtlingen gleichzustellen. Der Staat, auf den die Verantwortung übergegangen ist, ist nicht nur nach Art. 28 GFK zur Neuausstellung eines Flüchtlingsausweises verpflichtet, sondern auch zur Gewährung aller Rechte und Vorteile, die Flüchtlingen von Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) und dem nationalen Recht sonst gewährt werden [...].

Ferner kann sich ein Ausländer auf den Zuständigkeitsübergang infolge des Ablaufs der Frist des Art. 2 Abs. 3 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 FlüVÜbk berufen (s. VG Düsseldorf, Urteil vom 26.5.2020, a.a.O.; anderer Ansicht Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2.8.2018, a.a.O.). In diesem Sinne hat das Bundesverwaltungsgericht zu Art. 28 Abs. 1 des Übereinkommens vom 28.9.1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen ausgeführt (Urteil vom 16.10.1990, Az. 1 C 15.88, NVwZ 1991, 787), dass es nicht lediglich zwischenstaatliche Verpflichtungen begründen will, sondern seine Vorschriften grundsätzlich auch so bestimmt sind, dass sie durch die Behörden und Gerichte unmittelbar angewendet werden können, wie es für das inhaltlich weitgehend übereinstimmende Abkommen vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sei, was bezüglich der Ausstellung des Reiseausweises einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung beinhalte. [...]

Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung liegen nicht vor. Zwar droht nach § 35 AsylG das Bundesamt unter anderem in dem Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war. Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt aber nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG voraus, dass dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird und die Klägerin ist nach dem oben dargestellten so zu behandeln, als ob ihr von dem Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist.

Rechtswidrig und aufzuheben ist ebenfalls die in Nr. 4 des angefochtenen Bescheides enthaltene Entscheidung bezüglich eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag einer Abschiebung. [...]