VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 16.11.2022 - 31 K 348.19 A - asyl.net: M31111
https://www.asyl.net/rsdb/m31111
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Rückkehr in eine Zwangsehe in Guinea:

1. Eine Zwangsehe und die damit verbundene Gewalt stellen gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG schwerwiegende Verletzungen grundlegender Menschenrechte dar.

2. Frauen sind in Guinea eine soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Berlin, Urteil vom 17.08.2022 - 31 K 305/20 A - asyl.net: M31230)

Schlagwörter: Guinea, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin zu 1. erfüllt die Voraussetzungen der §§ 3 ff. AsylG für die Gewährung von Flüchtlingsschutz.

Nach dem Ergebnis des Verwaltungs- und Klageverfahrens einschließlich der mündlichen Verhandlung vom 16. November 2022 ist das Gericht bei Berücksichtigung der allgemeinen Auskunftslage für Guinea und seiner darauf beruhenden einschlägigen Rechtsprechung davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass der Klägerin zu 1. im Fall einer Rückkehr in ihr Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (erneut) eine geschlechtsspezifische Verfolgung in ihrer Eigenschaft als Frau durch nichtstaatliche Akteure droht, gegen die ihr der guineische Staat und sonstige insoweit relevante Einrichtungen keinen hinlänglichen Schutz zu bieten vermögen (vgl. insbesondere § 3 Abs. 1 Nr. 1, 5. Var., § 3a Abs. 2 Nr. 1 und 6, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3c Nr. 3 sowie § 3d AsylG; zum Verfolgungsgrund und der Einordnung guineischer Frauen als bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, 5. Var. und § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG aus der Spruchpraxis der Kammer eingehend und grundlegend VG Berlin, Urteil vom 17. August 2022 – VG 31 K 305/20 A -, juris Rn. 30 ff.[...]). Die Klägerin zu 1. hat glaubhaft geschildert, in Guinea noch im Kindesalter mit gerade einmal zwölf oder 13 Jahren einer ihr von ihrem Vater und ihrem Mann aufgenötigten Eheschließung (Zwangsverheiratung) ausgesetzt gewesen zu sein, die gegen ihren ausdrücklichen Willen erfolgte, der sie sich jedoch nicht erfolgreich habe widersetzen können (insbesondere angesichts der Dominanz ihres Vaters, den sie als einen sehr strengen Koranlehrer beschrieb, dessen Anweisungen die Familie Folge zu leisten habe [...]. Die der Klägerin zu 1. dadurch und darüber hinaus auch in der Ehe selbst angetane (psychische und zum Teil offenbar auch physische) Gewalt stellen schwerwiegende Verletzungen ihrer grundlegenden Menschenrechte im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar (vgl. nur VG Berlin, Urteil vom 10. November 2022, a.a.O., S. 9 m.w.Nachw.). Wie die Klägerin zu 1. des Weiteren glaubhaft bekundet hat, hätte sie in Guinea aller Voraussicht nach keine andere Wahl, als dem Wunsch ihrer Familie zu entsprechen und zu ihren Ehemann zurückzukehren, also die von ihr ausdrücklich auch weiterhin nicht gewollte, sondern abgelehnte Ehe fortzusetzen. [...]

Auf andere Landesteile Guineas, außerhalb ihrer Heimatregion und des Einflussbereichs ihrer Familie, ihres Ehemanns sowie gegebenenfalls auch dessen Familie, als mögliche Orte internen Schutzes (§ 3e AsylG) kann die Klägerin zu 1. nicht verwiesen werden. Denn die Niederlassung in einem sicheren Landesteil kann vernünftigerweise nur erwartet werden, wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine anderen Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. Dabei ist der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz am Ort des internen Schutzes eine hervorgehobene Bedeutung beizumessen. Das wirtschaftliche Existenzminimum muss am Ort des internen Schutzes auf einem Niveau gewährleistet sein, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt. Das Bundesamt trägt die Darlegungs- und materielle Beweislast dafür, dass das wirtschaftliche Existenzminimum bei der gebotenen Prognose gewährleistet ist [...]. An dieser Zumutbarkeit der Niederlassung an einem anderen Ort in Guinea fehlt es hier. [...] "Als alleinstehende Frau dürfte es kaum möglich sein, ein Existenzminimum zu erwirtschaften, welches es für sie ohne familiäre Unterstützung möglich macht, sich in einem anderen Landesteil als ihrer Heimatregion niederzulassen."}, jedenfalls aber bei der hier bei realistischer Betrachtung zu unterstellenden gemeinsamen Rückkehr zusammen mit dem Kläger zu 2. und dem noch ungeborenen weiteren Kind wohl ausgeschlossen. Ausgehend von den humanitären und sozioökonomischen Verhältnissen in Guinea, wie sie sich aus den vorhandenen Erkenntnissen ergeben, muss für die Klägerin zu 1. und ihre Kinder nach ihren individuellen Verhältnissen vielmehr die beachtliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Verelendung angenommen werden. [...]

Für den Kläger zu 2. besteht bei der vorstehend geschilderten Sachlage ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), weil ihm in Guinea beachtlich wahrscheinlich drohen würde, getrennt von seiner Mutter, der Klägerin zu 1., bei deren Vater leben zu müssen, wenn diese gezwungen wäre, allein zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Im Übrigen, d.h. in dem Fall, dass sich die Klägerin zu 1. einer Rückkehr in die von ihr nicht gewollte Ehe tatsächlich erfolgreich entziehen könnte, stünde dem Kläger zu 2. jedenfalls Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu. Denn in diesem Fall würde dem Kläger zu 2. in Guinea nach dem zuvor Gesagten mangels hinreichender Existenzsicherung eine Verelendung drohen. [...]