BGH

Merkliste
Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 25.10.2022 - XIII ZB 44/20 - asyl.net: M31145
https://www.asyl.net/rsdb/m31145
Leitsatz:

Gehörverstoß wegen Zurückweisung einer Beschwerde vor Gewährung von Akteneinsicht:

1. Beantragen Verfahrensbevollmächtigte Einsicht in die Gerichts- und Ausländerakte und kündigen an, eine Beschwerde anschließend zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde erst zurückweisen, nachdem es die Akteneinsicht gewährt und eine für die Begründung des Rechtsmittels angemessene Zeitspanne zugewartet hat. Andernfalls liegt ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG vor (Gehörsverletzung/Gehörsverstoß).

2. Eine Rechtsbeschwerde muss in diesem Fall darlegen, dass die angegriffene Entscheidung auf dieser Gehörsverletzung beruht, das Verfahren ohne den Verstoß also zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (hier verneint).

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: BGH, Beschluss vom 22.06.2021 - XIII ZB 59/20 - asyl.net: M29992; BGH, Beschluss vom 19.07.2018 - V ZB 223/17 - asyl.net: M26579)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Akteneinsicht, rechtliches Gehör, Vortrag, Prozessbevollmächtigte, Beschwerde, Beruhen,
Normen: GG Art. 103 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

2. Die Entscheidung hält rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand. Zwar hat das Beschwerdegericht den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt. Jedoch beruht die angefochtene Entscheidung nicht auf dieser Rechtsverletzung.

a) Das Beschwerdegericht hat unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG über die Beschwerde entschieden, weil es die vom Verfahrensbevollmächtigten beantragte Akteneinsicht erst nach Erlass der Beschwerdeentscheidung gewährt hat.

aa) Beantragt der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen - wie hier - Einsicht in die Gerichts- und Ausländerakte und kündigt er an, die Beschwerde anschließend zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde erst zurückweisen, wenn es die Akteneinsicht gewährt und eine für die Begründung des Rechtsmittels angemessene Zeitspanne zugewartet hat (BGH, Beschlüsse vom 19. Juli 2018 - V ZB 223/17, InfAuslR 2018, 413 Rn. 7 ff.; vom 20. Juli 2021 - XIII ZB 106/19, juris Rn. 7; vom 22. Februar 2022 - XIII ZB 74/20, InfAuslR 2022, 331 Rn. 8). Der drohende Ablauf einer bereits angeordneten Haft rechtfertigt nicht die Verkürzung von Verfahrensrechten des Betroffenen. Vielmehr kann dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitenden Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen, welches auch in Abschiebungshaftsachen zu beachten ist, durch eine geeignete Verfahrensgestaltung Rechnung getragen werden, etwa durch eine kurzfristige Einsichtnahme in die Akten auf der Geschäftsstelle des Gerichts und eine anschließende kurze Frist für die Begründung der Beschwerde (BGH, InfAuslR 2018, 413 Rn. 8).

bb) Das hat das Beschwerdegericht verfahrensfehlerhaft unterlassen. [...]

b) Die Entscheidung beruht jedoch nicht auf der Gehörsverletzung. Die Rechtsbeschwerde legt nicht dar, dass das Verfahren ohne den Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 18. Februar 2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 23; vom 15. September 2016 - V ZB 49/15, juris Rn. 2, jeweils mwN; s.a. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 2020 - 2 BvR 2345/16, InfAuslR 2020, 343 Rn. 61). Der Haftanordnung lag ein zulässiger Haftantrag zugrunde (dazu aa). Auch war das Beschwerdegericht nicht deshalb zur Aufhebung der Haft nach § 426 FamFG verpflichtet, weil eine Abschiebung nicht innerhalb des Zeitraums von drei Monaten gemäß § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zu erwarten war (dazu bb). [...]