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VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 03.04.2023 - 4 A 4221/21 - asyl.net: M31510
https://www.asyl.net/rsdb/m31510
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinstehenden Mann aus Somalia wegen schlechter wirtschaftlicher und humanitärer Lage:

1. Aufgrund des langjährigen Bürgerkriegs sowie häufiger Dürre- und Flutkatastrophen leidet ein erheblicher Teil der Bevölkerung Somalias unter chronischem Mangel an Lebensmitteln, Trinkwasser und medizinischer Versorgung. Gerade in den urbanen Gebieten ist die Ernährungssituation prekär und droht, sich weiter zu verschlechtern.

2. Die Lage Millionen Binnenvertriebener ist besonders prekär. Sie sind andauernden, schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, und ihre besondere Schutzlosigkeit wird von staatlichen und nichtstaatlichen Stellen missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmitteln, Bewegungseinschränkungen und rechtswidrige Zwangsräumungen sowie Diskriminierung aufgrund von Clan-Zugehörigkeit sind an der Tagesordnung.

3. Rückkehrende sind auf dem Arbeitsmarkt besonders benachteiligt, da die wenigen Arbeitsplätze bevorzugt an ortskundige und vernetzte Einheimische vergeben werden.

4. Ohne eine leistungsfähige und -willige Kernfamilie ist es auch für einen jungen gesunden Mann, der seit mehreren Jahren nicht in Somalia gelebt hat, nicht gewährleistet, dass es ihm selbst bei größtmöglicher Anstrengung gelingt, sich zu integrieren und ein wirtschaftliches Existenzminimum zu erwirtschaften.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Sachsen, Urteil vom 12.10.2022 - 5 A 78/19.A - asyl.net: M31118; siehe auch: VG Frankfurt a.M., Urteil vom 03.02.2023 - 9 K 3501/21.F.A - asyl.net: M31374)

Schlagwörter: Somalia, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzgrundlage, Dürre, Bürgerkrieg, Hunger, Lebensmittel, Wasser, Bürgerkrieg, Al-Shabaab, Arbeitsmarkt, Obdachlosigkeit, Mogadischu
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, wonach ein Ausländer nicht abgeschoben werden darf, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

Dabei kommt insbesondere eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht. [...] Die abschiebungsrelevante Lage in Somalia stellt sich nach den zutreffenden Ausführungen des hiesigen Verwaltungsgerichts (Urt. v. 14.02.2022-4 A 1129/19), denen sich die Einzelrichterin anschließt, wie folgt dar:

"Somalia ist spätestens seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 ohne flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die Autorität der Zentralregierung wird vom nach Unabhängigkeit strebenden "Somaliland" im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen Al-Shabaab-Miliz in Frage gestellt. [...] Der langjährige Bürgerkrieg sowie häufige Dürre- und Flutkatastrophen führen dazu, dass weiterhin ein erheblicher Teil der Bevölkerung unter chronischem Mangel an ausreichender Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser und medizinischer Versorgung leidet. Hilfsaktionen der internationalen Staatengemeinschaft und durch Hilfsorganisationen werden durch die allgemeinen Verhältnisse im Land behindert und sind in den von der Al-Shabaab-Miliz kontrollierten Gebieten unmöglich. [...]

Die 2017 ausgebrochene Hungersnot konnte zwar durch humanitäre Hilfen im Umfang von etwa einer Milliarde US-Dollar abgewendet werden, die Ernährungssituation bleibt in weiten Teilen des Landes, gerade in den urbanen Gebieten von Mogadischu, Kismayo und Baidoa, die bereits zahlreiche intern vertriebene Personen aufnehmen mussten, prekär [...].

Nach den Rekordregenfällen im März und Mai 2018, der darauffolgenden Flut und anschließenden Dürreperiode drohte die Ernährungssituation sich erneut zu verschlechtern. Etwa 800.000 Menschen in Süd- und Mittelsomalia waren von den Ernteausfällen und Fluten betroffen, über 230.000 mussten ihr Zuhause verlassen, viele davon in Richtung der urbanen Zentren des Landes, sodass die Anzahl der dauerhaft intern vertriebenen Menschen inzwischen bei 2,1 Millionen liegt, von denen sich bereits 2018 etwa 900.000 in Süd- und Mittelsomalia befanden (NRC, a.a.O., S. 64, UNOCHA, Humanitarian Bulletin Somalia, Mai-Juni 2018, S. 1, 2, Amnesty International, a.a.O., S. 12).

Seit Oktober 2019 ist Somalia auch weiterhin von der schwersten Heuschreckenplage der vergangenen Jahrzehnte betroffen [...]

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie ab Dezember 2019 auf die humanitäre Lage in Somalia sind in Ermangelung einer ausreichenden Datengrundlage nicht abschätzbar. [...]

Auch im Jahre 2021 bildete Somalia infolge dieser Entwicklungen - wie bereits seit über 20 Jahren - das Schlusslicht im Welthungerindex und ist das einzige Land, dessen Hungerschweregrad als gravierend eingestuft wird [...]. Aktuellen Schätzungen zufolge leiden infolge des dritten Dürrejahres in Folge 1,4 Millionen Kinder in Somalia unter akuter Unterernährung. Die anhaltende Dürre und hohe Anzahl an Binnenvertriebenen insbesondere in Mogadischu und anderen Großstädten führt inzwischen auch zu einer Wasserknappheit, die einen Anstieg der Wasserpreise seit November 2021 um bis zu 72% [...].

Die Lage für (Binnen-)Vertriebene stellt sich als besonders prekär dar. Sie sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nichtstaatlichen, aber auch staatlichen Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkungen und Diskriminierung aufgrund von Clan-Zugehörigkeiten sind an der Tagesordnung. Rechtswidrige Zwangsräumungen, die Binnenvertriebene und die arme Stadtbevölkerung betrafen, sind nach wie vor ein großes Problem, insbesondere in Mogadischu, wo allein seit November 2016 mehr als 60.000 Menschen betroffen waren. Die Mehrheit der Vertriebenen zog in der Folge in entlegene und unsichere Außenbezirke von Mogadischu, wo es lediglich eine rudimentäre bzw. gar keine soziale Grundversorgung gibt und sie unter äußerst schlechten Bedingungen leben (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, Stand Januar 2019, S. 19f; Amnesty International, Unsustainable returns of refugees to Somalia, 2017, S. 12). Rund 14% der Einwohner leiden an akuter Mangelernährung, mit einem höheren Anteil in Regionen mit einem hohen Anteil an Rückkehrern und Binnenvertriebenen: Nur 3% der Rückkehrer gaben bei Studien an, nicht in eine Situation geraten zu sein, in der sie ihre Nahrungsmittelaufnahme haben reduzieren müssen [...].

Die Lage in Mogadischu stellt das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht wie folgt dar:

"Mogadischu wird im ostafrikanischen Raum - trotz aller Gefahren und Armutsrisiken - mittlerweile als "Boomtown" angesehen [...].

Allerdings stimmen die aktuellen Berichte darin überein, dass nach Mogadischu zurückkehrende Somalier über familiäre oder Clan-Verbindungen verfügen sollten, um im wirtschaftlichen Leben Fuß zu fassen [...]."

Diese Ausführungen legt der Einzelrichter der Entscheidung zugrunde. Familie und Clan bleiben der wichtigste Faktor, wenn es um Akzeptanz, Sicherheit und Grundbedürfnisse geht. Der UNHCR weist jedoch darauf hin, dass die Sozialstruktur nach 20 Jahren Krieg und Vertreibung dermaßen zerstört ist, dass die erweiterte Familie keinen Schutz mehr bieten kann. Die Unterstützungsnetze beschränken sich nur noch auf die Kernfamilie - wenn überhaupt. [...] Rückkehrer seien auf dem Arbeitsmarkt demgegenüber besonders benachteiligt, da die wenigen Arbeitsplätze bevorzugt an ortskundige und vernetzte Einheimische mit relevanten und besser vermarktbaren Fähigkeiten vergeben werden. [...]"

Vorliegend ist nicht davon auszugehen, dass es dem Kläger unter der in Mogadischu gegebenen humanitären Lage gelingen wird, dergestalt seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, dass er das Existenzminimum erreicht, unter welchem eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht mehr zu befürchten ist. Der Kläger hält sich seit mittlerweile neun Jahren außerhalb seines Herkunftslandes auf. Auf seine bloße Clanzugehörigkeit kann der Kläger nicht verwiesen werden. Wie oben dargestellt, bedarf es nach den aktuellen Erkenntnismitteln für den Lebenserhalt im wirtschaftlichen Sinne in erster Linie der Kernfamilie. Aus der Kernfamilie des Klägers lebt jedoch niemand mehr in Somalia. Ohne die dargestellten sozialen Bindungen ist es mittlerweile selbst für einen jungen gesunden Mann nicht gewährleistet, dass es ihm selbst bei größtmöglicher Anstrengung gelingen kann, sich zu integrieren und wirtschaftlich Fuß zu fassen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. [...]