VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 31.03.2023 - 22 K 355/22 V - asyl.net: M31612
https://www.asyl.net/rsdb/m31612
Leitsatz:

Anspruch auf Visum zur Familienzusammenführung für volljährig gewordenes Kind:

1. Nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 4 Familienzusammenführungsrichtlinie (FamZ-RL; RL 2003/86/EG) ist für die Frage, ob das Kind einer als Flüchtling anerkannten Person minderjährig ist, der Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags des Elternteils maßgeblich, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung in angemessener Zeit nach Anerkennung des Elternteils als Flüchtling, d.h. innerhalb von drei Monaten, gestellt wird.

2. Erklärt die zuständige Botschaft öffentlich, dass die Antragstellung persönlich erfolgen muss, kann sie sich das Auswärtige Amt nicht darauf berufen, dass das Kind einen entsprechenden Antrag nicht innerhalb von drei Monaten postalisch oder per E-Mail gestellt hat, sofern es ohne schuldhaftes Zögern das ihm Mögliche getan hat, um das Visum zu beantragen.

3. Liegen die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 1 Bst. c FamZ-RL vor, ergibt sich ein Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Zweck der Familienzusammenführung direkt aus der Familienzusammenführungsrichtlinie. Dass die Voraussetzungen nach nationalem Recht gemäß § 32 AufenthG im Zeitpunkt der Entscheidung wegen der mittlerweile eingetretenen Volljährigkeit nicht vorliegen, ist unerheblich.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-279/20 Deutschland gg. XC (Asylmagazin 9/2022, S. 323 ff.) - asyl.net: M30815; siehe auch: Auswärtiges Amt, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 09.09.2022 - 508-543.53/2 (Asylmagazin 1-2/2023, S. 34 f.) - asyl.net: M31184)

Siehe auch:

  • Michael Kalkmann: Zu EuGH-Urteilen vom 1.8.2022: Minderjährigkeit bei Asylantragstellung der Referenzperson maßgeblich, Asylmagazin 9/2022, S. 302
Schlagwörter: Familienzusammenführung, minderjährig, Volljährigkeit, Flüchtlingsanerkennung, Beurteilungszeitpunkt, Familienzusammenführungsrichtlinie,
Normen: AufenthG § 32 Abs. 1 Nr. 2, RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1 Bst. c, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 6 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

[...]

16 Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf das begehrte Visum zum Familiennachzug zu ihrem Vater (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

17 Nach § 6 Absatz 3 Satz 1 AufenthG ist für einen längerfristigen Aufenthalt ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Gemäß § 6 Absatz 3 Satz 2 AufenthG richtet sich die Erteilung nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften.

18 Auf der Grundlage des nationalen Rechts hat die Klägerin keinen Rechtsanspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu ihrem Vater. Ein solcher Rechtsanspruch könnte sich nur aus § 32 AufenthG ergeben, der den Nachzug minderjähriger Kinder regelt. Volljährigen Kindern kann der Nachzug nur bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Ermessenswege gewährt werden (§ 36 Abs. 2 AufenthG). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. § 32 AufenthG ist nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dahin auszulegen, dass das Kind zwar nicht bei Erteilung des Visums, wohl aber in dem Zeitpunkt, in dem es den Antrag auf Erteilung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung bei der Auslandsvertretung gestellt hat, noch minderjährig sein muss (Beschluss vom 23. April 2020 - 1 C 16.19 – juris Rn. 9 f.). Diese Voraussetzungen erfüllt die am ... geborene Klägerin nicht, da sie bei der Antragstellung am 28. Juni 2018 bei der Botschaft der Beklagten in Teheran bereits volljährig war.

19 Der Klägerin steht der Anspruch auf Erteilung des Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung jedoch in unmittelbarer Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG zu. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung der Richtlinienvorschrift liegen vor. Es handelt sich um eine inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Regelung, die ein Recht des Einzelnen begründet und die der deutsche Gesetzgeber innerhalb der am 3. Oktober 2005 (Art. 20 Abs. 1 RL 2003/86/EG) abgelaufenen Umsetzungsfrist nicht hinreichend in das nationale Recht umgesetzt hat. [...]

23 Da der Europäische Gerichtshof ausdrücklich darauf abgestellt hat, dass die zuständigen nationalen Behörden nicht in einer Weise handeln dürfen, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde (NJW 2022, 3623 Rn. 49, beck-online), musste es bei verständiger Auslegung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom 1. August 2022 für die in "angemessener" Zeit vorzunehmende Antragstellung durch die Klägerin jedenfalls genügen, dass sie ohne schuldhaftes Verzögern innerhalb der genannten 3-Monats-Frist das in ihrer Macht Stehende hierfür getan hat, indem sie sich für einen persönlichen Vorsprachetermin bei der Botschaft in Teheran hat registrieren lassen und im Juni 2018 – etwa sieben Monate nach Erlass des Anerkennungsbescheids für ihren Vater – den Visumsantrag gestellt hat. Der Verweis der Beklagten darauf, dass die Klägerin den Antrag auch in schriftlicher Weise, etwa per E-Mail oder Fax schon vor der persönlichen Vorsprache hätte stellen sollen und müssen, greift nicht durch. Auf der Internetseite der Deutschen Botschaft in Teheran wird auch gegenwärtig noch (Stand 24. März 2023) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Antrag "persönlich" gestellt werden muss, also eine direkte Vorsprache verlange und hierfür – nach Registrierung – eine Wartezeit von ca. neun Monaten bestehe. Die Klägerin hat vorgetragen, dass im Jahr 2019 die Wartezeit etwa sechs Monate betrug; dies ist von der Beklagten nicht bestritten worden und angesichts der aktuellen Situation glaubhaft und realistisch. Es ist daher – ausgehend von dem Vorsprachetermin im Juni 2019 – davon auszugehen, dass sich die Klägerin zeitnah innerhalb von drei Monaten nach dem Wirksamwerden des Anerkennungsbescheids bei der Deutschen Botschaft in Teheran für den Termin im Juni 2019 hat registrieren lassen und sie aufgrund der Hinweise auf der Webseite nicht davon ausgehen durfte oder musste, dass ihr eine Antragstellung auch anders und früher als mit ihrer  persönlichen Vorsprache im Juni 2019 möglich gewesen sein könnte.

24 Solange die Hinweise auf den Webseiten der Botschaften so ausgestaltet sind, dass ein Visumsantrag nur "persönlich" gestellt werden könne, wäre es rechtsmissbräuchlich, wenn sich die Beklagte auf eine auf diese Weise verursachte Fristversäumung berufen könnte. [...]

20 In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist auf den oben genannten Vorlagebeschluss durch das Urteil vom 1. August 2022 - C-279/20 (vgl. bei juris) nunmehr geklärt, wie Art. 4 Abs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG auszulegen ist. Danach (a.a.O. Rn. 54) ist für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein minderjähriges Kind ist, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, der Zeitpunkt maßgebend, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat, sofern der "Antrag auf Familienzusammenführung" in "angemessener Zeit", d.h. "innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling" gestellt wurde. [...]