VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 01.02.2023 - 5 K 1418/22 Me - asyl.net: M31720
https://www.asyl.net/rsdb/m31720
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für Person aus dem Iran wegen exilpolitischer Aktivitäten in sozialen Medien:

1. Allein ein niedrigschwelliges "Posten" oppositioneller Inhalte im Ausland ist wohl regelmäßig nicht ausreichend, um das Interesse der Cybereinheit des iranischen Geheimdienstes zu wecken. Die Gefahr einer schwereren Bestrafung bei einer Rückkehr in den Iran besteht jedenfalls für Personen mit hoher Sichtbarkeit in den sozialen Netzwerken. Allerdings sind Verhaftungen auch für Personen mit geringen politischen Aktivitäten in den sozialen Netzwerken möglich.

2. Dem Kläger droht im Iran aufgrund seiner politischen Aktivität in sozialen Netzwerken politische Verfolgung, da davon auszugehen ist, dass er aufgrund seiner nicht ganz unerheblichen Reichweite in den Fokus des iranischen Regimes geraten ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Gießen, Urteil vom 28.04.2023 - 3 K 2214/19.GI.A (Asylmagazin 6/2023, S. 213 ff.) - asyl.net: M31514)

Schlagwörter: Iran, politische Verfolgung, Exilpolitik, soziale Medien, Instagram, Tik-Tok,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 28 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Bei Anwendung der dargelegten Grundsätze ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1, 4. Var. AsylG zuzuerkennen. [...]

Im Iran haben sich die Repressionen gegen politische Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger und Gegner des Regimes innerhalb der zurückliegenden Jahre verstärkt.

Zahlreiche friedliche Regierungskritiker und Menschenrechtsaktivisten wurden in den letzten Jahren inhaftiert. Ihre Tätigkeit wird regelmäßig als gegen die Sicherheit des Irans gewandt strafrechtlich verfolgt und mit hohen Freiheitsstrafen oder auch körperlichen Züchtigungen geahndet. In Haftanstalten sind sie physischer und psychischer Folter ausgesetzt. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System des Irans empfunden werden oder die islamische Grundsätze in Frage zu stellen geeignet sind. Auch Aktivisten für Arbeiterrechte (Gewerkschaften, Streikrecht) sowie Umweltschützer sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen bis hin zu langjährigen Haftstrafen geraten, dies insbesondere seit dem Jahr 2017. [...]

Insbesondere auch kurdische oppositionelle Gruppen, die in Verdacht stehen, separatistische Ziele zu verfolgen, werden brutal unterdrückt. Kurdische Aktivisten werden in unfairen Verfahren zu harten Gefängnisstrafen verurteilt. Die Verfolgung kurdischer Oppositioneller beschränkt sich nicht ausschließlich auf Parteimitglieder in hohen Positionen. Der Besitz einer Broschüre oder einer CD mit Informationen zur verbotenen oder der Regimekritik verdächtigen Partei kann als ein die nationale Sicherheit bedrohender Akt aufgefasst werden. [...]

Ob eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle oppositioneller Aktivitäten vorliegt, ist damit nach den konkret-individuellen Gesamtumständen des Einzelfalles zu beurteilen. [...]

Im Bereich von "social media" gilt ähnliches. Allein ein niederschwelliges "Posten" ist wohl nicht ausreichend, um das Interesse des iranischen Geheimdienstes zu wecken. Zwar sind Überwachungen der Aktivitäten in sozialen Netzwerken von Iranern und Iranerinnen insbesondere im Ausland wahrscheinlich [...].

Weit gefasste Auslegung von Gesetzen ermöglicht es, in sozialen Netzwerken veröffentlichte politisch abweichende Meinungen zu kriminalisieren und hart zu bestrafen. Laut Freedom House beschränken viele Gesetze die Meinungsfreiheit im Internet und sehen schwere Strafen für eine Gesetzesübertretung vor. [...]

Die Behandlung von politischen Aktivist/innen bei ihrer Rückkehr in den Iran ist von Fall zu Fall verschieden. Die Gefahr einer schwereren Bestrafung besteht jedenfalls für solche mit hoher Sichtbarkeit. Verhaftungen sind allerdings auch möglich für Personen mit geringen politischen Aktivitäten in den sozialen Netzwerken. [...]

Zur Überzeugung des Gerichts steht dem Kläger gemessen an diesen Grundsätzen ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu, weil davon auszugehen ist, dass er bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen aufgrund der ihm zugeschriebenen politischen Haltung zu befürchten hat.

Der Kläger gibt an, dass er sich bereits früher für politische Themen interessiert habe. Als er nach Deutschland eingereist sei, sei er noch minderjährig gewesen, so dass sein Interesse erst in Deutschland habe stetig wachsen können. Der Tod von Mahsa Amini am 16.09.2022 sei der Funke gewesen, um die Flamme zu entfachen. Etwa eine Woche danach habe er angefangen intensiv über politische Dinge über seine social media Accounts zu berichten. Er wolle die Menschen aufklären und über die Lage im Iran informieren. Seit dem 16.09.2022 habe er an fünf Demonstrationen teilgenommen. Bei allen Demonstrationen sei es um die Rechte, die den Menschen im Iran nicht zugestanden würden, gegangen. Man werde willkürlich verhaftet. Menschen in seinem Alter würden auf offener Straße erschossen werden. Die Menschen würden nach Freiheit schreien. Bereits bei der Demonstration am 22.10.2022 habe er in Video gedreht. Darauf sei die Demonstration, aber auch er selbst zu sehen. Seine Stimme sei die ganze Zeit zu hören. Ein weiteres Video habe er am 08.01.2023 zum Gedenken an die Opfer des Flugzeugabsturzes einer Boeing der Ukraine am 08.01.2020 durch zwei iranische Flugabwehrraketen gedreht. [...]

Die Einzelrichterin wertet den Vortrag des Klägers als durchweg glaubhaft. Er führte umfangreich zu seinen exilpolitischen Tätigkeiten aus, die im Einzelnen auch von seiner Mutter bestätigt wurden. Dem Kläger kann auch nicht zu Last gelegt werden, dass er "erst" seit vier Monaten öffentlichkeitswirksam in Erscheinung getreten sei, war er bei seiner Einreise erst 15 Jahre alt. Glaubhaft hat er geschildert, dass er sich immer mehr für Politik interessiert habe und dass der Tod von Mahsa Amini der Moment gewesen sei, die Gefahr einer exilpolitischen Tätigkeit (vor allem auch für Familienangehörige, die noch im Iran leben) auf sich zu nehmen. Er sehe es als seine Pflicht an, die Menschen aufzuklären und zu informieren. Zwar kann der Kläger nur vermuten, dass die Vorfälle am 15.01.2023 und 16.01.2023 mit seinen politischen Posts, wahrscheinlich mit seinem Video von der Demonstration in ..., in Zusammenhang stehen. Jedenfalls aber hat er glaubhaft, da emotional dennoch nicht überbordend ausgeschmückt, ausgeführt, dass die Polizisten ihn wegen regimekritischen Äußerungen suchen würden. Dafür, dass das iranische Regime Kenntnis erlangt hat, spricht auch, die nicht ganz unerhebliche Reichweite seiner Posts. So sei das … Video auf Tik-Tok ca. 3700mal; auf Instagram ca. 450mal aufgerufen wurden. Ein anderes Video habe ca. 2500 Aufrufe, mit 300 Likes gehabt. Auf Tik-Tok würden ihm ca. 300, auf Instagram ca. 1100 Menschen folgen. Auf beiden Plattformen sei der Kläger unter seinem Klarnamen zu finden.

Nach alldem ist davon auszugehen, dass der Kläger als Regimegegner in den Fokus des iranischen Regimes geraten ist und bei einer Rückkehr mit beachtlichen Verfolgungshandlungen rechnen muss. Seine begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner politischen Haltung und Betätigung beruht damit zwar im Wesentlichen auf Ereignissen bzw. auf seinem eigenen Verhalten, welches nach seiner Ausreise aus dem Iran eingesetzt hat. Dieses stellt sich jedoch als Fortsetzung und Ausdruck seiner bereits bestehenden Überzeugung dar. Der geltend gemachte Nachfluchttatbestand kann daher gemäß § 28 Abs. 1a AsylG Grundlage einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sein. [...]