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VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 03.07.2023 - 15 B 23.30187 (Asylmagazin 10-11/2023, S. 365 ff.) - asyl.net: M31825
https://www.asyl.net/rsdb/m31825
Leitsatz:

Zivilpersonen droht im Jemen regelmäßig keine ernsthafte Bedrohung aufgrund willkürlicher Gewalt:

1. Im Jemen besteht seit 2014 ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG. Es fehlt inzwischen jedoch regelmäßig an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit von Zivilpersonen infolge dieses innerstaatlichen bewaffneten Konflikts, sodass der subsidiäre Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG nicht zuzuerkennen ist.

2. Zwar stellt sich sowohl die politische als auch die Sicherheitslage im Jemen und insbesondere in der Region Sanaa insgesamt als ausgesprochen volatil dar und der bewaffnete Konflikt zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung dauert nach wie vor an. Es kommt immer wieder zu Kämpfen zwischen diesen Gruppen. Auch ist ein Ende des Jemen-Konflikts ist nicht absehbar. Seit Inkrafttreten des von der UNO vermittelten Waffenstillstands im März 2022 hat sich die Intensität des Konflikts und die Zahl der Opfer jedoch signifikant reduziert. Auch nach Auslaufen des Waffenstillstands im Oktober 2022 ist weiterhin eine deutlich verbesserte Lage feststellbar.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Meiningen, Urteil vom 28.04.2023 - 2 K 822/20 Me - asyl.net: M31666)

Schlagwörter: Jemen, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, erhebliche individuelle Gefahr, Huthi, Sanaa
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

3 Mit Bescheid vom 3. Februar 2022 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab. Ferner wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4); dem Kläger wurde die Abschiebung in den Jemen oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zur Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht [...].

4 Auf die vom Kläger hiergegen erhobene Klage hob das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 30. November 2022 die Nrn. 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts vom 3. Februar 2022 auf und verpflichtete die Beklagte, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen; im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. [...]

5 Auf den Antrag des Klägers ließ der Senat mit Beschluss vom 16. März 2023 (Az. 15 ZB 23.30137) im Hinblick auf das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 11. August 2022 (Az. M 17 K 22.30849) und die Senatsentscheidung vom 23. November 2022 (Az. 15 ZB 22.30980) die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu. [...]

14 Im Jemen besteht seit 2014 ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (vgl. VG Saarland, U.v. 16.3.2023 - 3 K 801/21 - juris Rn. 18 ff.). Es fehlt jedoch inzwischen und aktuell (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge des Konflikts im Jemen. [...]

16 2. Sowohl die politische als auch die Sicherheitslage im Jemen und insbesondere in der Region Sanaa (Hauptstadt und Gouvernement), in die der Kläger voraussichtlich zurückkehren wird (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 17), stellt sich insgesamt ausgesprochen volatil dar. [...]

18 Der bewaffnete Konflikt zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung und ihren Unterstützern dauert nach wie vor an. Es kommt immer wieder zu Kämpfen zwischen diesen Gruppen in den südlichen Provinzen Abyan, Shabwai sowie vereinzelt in Aden. Daneben kommt es auch in Taizz immer wieder zu Kämpfen. Teile des Landes sind von täglichen Bombardierungen, Raketenangriffen und Kampfhandlungen am Boden betroffen. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat der Konflikt seit März 2015 eine erhebliche Anzahl ziviler Opfer gefordert. Die fortdauernden Kampfhandlungen stellen für die Zivilbevölkerung weiterhin eine erhebliche Gefährdung dar. Ein Ende des Jemen-Konflikts ist nicht absehbar. [...]

19 3. Zwischenzeitlich und aktuell (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) fehlt es allerdings ohne das Hinzutreten gefahrerhöhender individueller Umstände im Jemen und insbesondere in der Region Sanaa an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit von Zivilpersonen infolge des Konflikts. Ein derart hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, was ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erfordert [...], liegt derzeit nicht vor.

20 Am 2. März 2022 trat ein von der UN vermittelter Waffenstillstand in Kraft, der nach Verlängerung am 2. Juni 2022 und am 2. August 2022, am 2. Oktober 2022 auslief. Zwar kam der innerstaatliche bewaffnete Konflikt im Jemen während der Waffenruhe nicht vollständig zum Erliegen. Dennoch führte der Waffenstillstand zu einer signifikanten Reduzierung der Intensität des Konflikts und der Zahl an Opfern [...]. Die Zahl an Opfern des Konflikts während des Waffenstillstands war durchgehend auf dem niedrigsten Stand seit Januar 2015 und auch hinsichtlich der katastrophalen humanitären Situation brachte der Waffenstillstand Verbesserungen, insbesondere hinsichtlich des Zugangs zu humanitärer Hilfe und wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Zivilbevölkerung [...]. Luftangriffe oder größere Militäroperationen fanden nicht statt, auch wenn Frontgebiete weiter von niedrigschwelligen Zusammenstößen betroffen waren [...].

21 Folgen des Waffenstillstands waren nicht nur ein Rückgang der Kämpfe, der zivilen Opfer und der Vertriebenen, sondern auch die Ermöglichung von Treibstoffeinfuhren und kommerziellen Flügen (vgl. Commissioner General for Refugees and stateless Persons, COI-Fokus Jemen, Sicherheitslage, 28.11.2022;UNICEF, Yemen Humanitarian Situation Report, 31.12.2022) sowie die Erleichterung der Bewegungsfreiheit (vgl. UN OCHA, Humanitarian Update Yemen, 26.2.2023). Zwar stieg seit Ende des Waffenstillstands die Zahl der Binnenvertriebenen wieder (vgl. UN OCHA, Humanitarian Update Yemen, 26.2.2023). Am 9. April 2023 fanden jedoch Friedensverhandlungen zwischen den Huthis und Vertretern Saudi-Arabiens unter Vermittlung Omans in S. statt, deren Ziele u.a. die Erneuerung des im Oktober ausgelaufenen Waffenstillstands, eine Aufhebung der saudischen Luft- und Seeblockade sowie das Ende der Besatzung von Taizz durch Huthi-Streitkräfte waren. Auch wenn diese Verhandlungen am 14. April 2023 ohne konkrete Ergebnisse endeten, wurden Berichten zufolge jedoch Fortschritte erzielt [...].

22 Selbst wenn diese Bemühungen und Fortschritte noch zu keiner unmittelbaren Beendigung der Konflikte und Lösungen führen und nicht ausreichen, um einen stabilen und dauerhaften Frieden zu sichern [...],
ist in der Gesamtschau gegenüber der Zeit vor dem Waffenstillstand im März 2022 eine deutlich verbesserte Lage im Jemen feststellbar. Nach wie vor besteht eine humanitäre Notlage und ist die medizinische Versorgung eingeschränkt sowie die Ernährungssicherheit im Jemen katastrophal [...]. Gleichwohl ist die Situation nicht (mehr) unmittelbar auf Kriegs- und Kampfhandlungen zurückzuführen. An der Front kommt es nur noch zu Scharmützeln [...] und es kam nach Auslaufen des Waffenstillstands zu keinen großflächigen Kämpfen mehr [...]. Auch wenn nach wie vor die Sorge besteht, die Gewalt könnte irgendwann wieder aufflammen, liegt derzeit vielmehr eine "wirtschaftliche Kriegsführung", die als "politische Waffe" eingesetzt wird, vor. Hauptprobleme sind die wirtschaftliche Misere, der fortschreitende Währungsverfall, die Preissprünge und Stromausfälle [...]. Aber auch hier gibt es Fortschritte gegenüber den vergangenen Kriegsjahren. So konnte beispielsweise am 25. Februar 2023 erstmals seit 2016 ein Frachter mit kommerziellen Gütern den Hafen von Hodeiah anlaufen [...]. Zur Anzahl der Opfer und zur Schwere der Schädigungen lassen sich aus den Erkenntnismitteln zwar keine konkreten und systematischen Angaben entnehmen. Insgesamt zeigt sich allerdings eine deutlich rückläufige Zahl der zivilen Opfer [...]. Auch unter Einbeziehung der schlechten medizinischen Versorgungslage und der sonstigen Umstände [...], die die wirtschaftliche, humanitäre und politische Situation im Jemen kennzeichnen, liegt das Risiko, im gesamten Jemen und in den o.g. genannten Gebieten, durch willkürliche Gewalt infolge eines bewaffneten Konflikts Schaden zu erleiden, zwischenzeitlich und aktuell (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) unter der Schwelle der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

23 Individuelle gefahrerhöhenden Umstände, die zu einer anderen Bewertung führen könnten [...], sind nicht ersichtlich. Solche sind weder geltend gemacht, noch ergeben sie sich aus dem klägerischen Vortrag im Laufe des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens.

24 Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 30. November 2022 unter Abweisung der Klage im Übrigen die Beklagte verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Da die Berufung seitens des Klägers auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes beschränkt ist, sind darüberhinausgehende Aspekte nicht Gegenstand dieses Verfahrens. [...]