Drohende politische Verfolgung in Ruanda wegen Nachforschungen zu verschwundenem Vater:
1. Der Erkenntnislage zufolge kommt es in Ruanda zu Misshandlungen und Folter von Oppositionellen durch Sicherheitsbehörden. Es kommt zu Inhaftierungen in inoffiziellen Militärgefängnissen und "Verschwindenlassen" sowie außergerichtlichen Hinrichtungen.
2. Die Klägerin ist aufgrund von Hausdurchsuchungen und Misshandlungen sowie sexualisierter Gewalt durch Polizisten bereits vorverfolgt ausgereist. Indem sie Nachforschungen zu ihrem verschwundenen Vater angestellt hat und damit den Vorwurf seiner Ermordung verbundenen hat, hat sie Kritik an der Regierung geäußert, sodass ihr auch unabhängig davon bei einer Rückkehr politische Verfolgung droht.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Niedersachsen, Urteil vom 14.03.2022 - 4 A 107/18 - asyl.net: M30679; siehe auch: VG Hannover, Urteil vom 14.08.2023 - 4 A 4942/20 - asyl.net: M31849)
[...]
Gemessen an diesen Voraussetzungen steht unter Zugrundelegung der verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen und dem persönlichen Eindruck der mündlichen Verhandlung nach Anhörung der Klägerin zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass die Klägerin wegen einer ihr von staatlichen Polizeibehörden zugeschriebenen oppositionellen Einstellung verfolgt wurde, in der Folge vorverfolgt ausgereist ist und ihr aufgrund dessen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Ruanda eine staatliche Verfolgung im Sinne des §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr.4, 3c Nr. 3 AsylG droht.
Der erkennende Einzelrichter hält die Schilderungen der Klägerin über die Verwüstung ihres Elternhauses durch drei uniformierte Personen am ... 2020 nach ihrem Besuch im Gefängnis, in dem sie ihren Vater vermutet hatte, ihre Verhaftung auf der Polizeistation am ... 2020, nachdem sie sich beschweren wollte, sowie die sexuelle Belästigung durch Polizisten und die Misshandlung im Gefängnis ... am ... 2020 vor ihrer Ausreise aus Ruanda insgesamt für glaubhaft. [...]
Ihre Nachforschungen über das Schicksal ihres Vaters hatten für sie Bedrohungen und Beobachtung durch die Polizei zur Folge. Die Beweiserleichterung der Vorverfolgung wird auch nicht durch eine insoweit veränderte Lage in ihrem Herkunftsland Ruanda erschüttert. Vielmehr legen die aktuellen Erkenntnisse eine empfindliche (Weiter-) verfolgung selbst von Ruanda-Rückkehrerinnen nahe, die in der Vergangenheit oder im Exil sich oppositionell öffentlich oder auch im privaten Bereich geäußert haben oder Kontakte zu oppositionell Tätigen pflegten oder pflegen. [...]
Zwar sind laut Verfassung und Gesetz Folter und unmenschliche Behandlung in Ruanda verboten. Dennoch wird von zahlreichen Misshandlungen von Gefangenen seitens der Polizei, des Militärs und des Geheimdienstes berichtet. Um an Geständnisse zu gelangen, werden Inhaftierte demnach im Gefängnis von der Polizei zeitweise geschlagen. Berichte weisen darauf hin, dass auch die Sicherheitskräfte und Militärgeheimdienstpersonal in Gefangenenlagern des Militärs Folter und andere unmenschliche Praktiken anwenden, um Geständnisse zu erhalten [...]. Es wird von politisch motiviertem Verschwindenlassen berichtet. [...] Es werden weiterhin Personen in inoffiziellen Militärgefängnissen gefangen gehalten, in welchen zahlreiche Häftlinge gefoltert werden. Zudem nutzen die Behörden außergerichtliche Hinrichtungen als Warnung. Gleichzeitig verleugnen Regierungsvertreter Berichte über Morde. Personen, die wegen Verbrechen gegen die Staatssicherheit angeklagt werden, werden weiterhin unrechtmäßig in Militärlagern festgehalten. Viele Menschen in diesen Lagern werden gefoltert [...]. Belästigung durch die Regierung, Verhaftung und Misshandlung von politischen Gegnern, Menschenrechtsaktivisten und Einzelpersonen, welche eine Bedrohung für die staatliche Kontrolle und soziale Ordnung darstellen, werden als die größten Probleme in der Verletzung der Menschenrechte beschrieben [...].
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht führt in seinem Urteil vom 14. März 2022 (4 LB 20/19, juris) nach Anhörung einer Sachverständigen zu der aktuellen Lage in Ruanda unter anderem aus:
"Kritik an dem ruandischen Staat und den dortigen politischen Verhältnissen, die öffentlichkeitswirksam geworden ist, kann daher im Zusammenhang mit einem Asylgesuch zu einer relevanten Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr aus dem Exil führen. [...]"
Dies gilt zur Überzeugung des Einzelrichters insbesondere (erst recht) für vorverfolgt ausgereiste ruandische Staatsbürgerinnen wie die Klägerin. Zudem hat die Klägerin durch ihre Nachforschungen zum Schicksal ihres Vaters und dem damit verbundenen Vorwurf seiner Ermordung im Auftrag der Regierung selbst Kritik an der Regierung geäußert. Nach dem aktuellen Gutachten "Politische und staatliche Verfolgung rwandischer Dissidenten, Oppositioneller und Regierungskritiker im In- und Ausland als Ursache von Flucht und Migration seit 2010" von Frau Dr. Bognitz vom 9. Februar 2022 sehen sich politische Oppositionelle und Verfolgte der Gefahr des "Verschwindenlassens" (forced disappearance) ausgesetzt. Zielorte sind dann der Öffentlichkeit nicht bekannte oder gar geheime Orte, die als provisorische oder übergangsmäßige Gefängnisse dienen. [...]
Bereits niedrigschwellige Kritik oder das bloße Aufzeigen von Problemstellungen und Herausforderungen innerhalb des Landes beispielsweise über die sozialen Medien innerhalb des Landes werden durch ein unverhältnismäßig hohes Strafmaß geahndet (Gutachten Dr. Bognitz S. 14). [...]