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VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 16.10.2023 - 4 K 1083/18.KS.A - asyl.net: M32006
https://www.asyl.net/rsdb/m32006
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen Mann aus Somalia: 

1. Somalia befindet sich in einer anhaltenden humanitären Krise. Aktuell herrscht die schwerste Dürre seit drei Jahrzehnten und Nahrungsmittelknappheit. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind stark gestiegen, so dass im Februar 2023 die Ernährungslage für knapp 30% der Bevölkerung kritisch oder schlimmer war. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt unter schlechten Wasser-, Sanitär und Hygienebedingungen, 41% der Bevölkerung haben keinen Zugang zu einer regelmäßigen stabilen Trinkwasserquelle.

2. Ob eine Person bei ihrer Rückkehr nach Somalia existenziell bedroht ist, so dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dabei ist einerseits zu berücksichtigen, über welche schulische Bildung oder berufliche Qualifikation die betroffene Person verfügt und ob sie besonders vulnerabel ist. Andererseits ist die Qualität des Empfangsraumes von herausragender Bedeutung, d.h. ob die betroffene Person nach ihrer Rückkehr vor Ort Unterstützung bei Personen oder Institutionen finden kann.

3. Zwar kann eine zurückkehrende Person grundsätzlich davon ausgehen, dass dort Familie im erweiterten Sinne des Clans existiert und Unterstützung bietet. Indes müssen diese einerseits selbst in der Lage sein, der betroffenen Person nach ihrer Rückkehr das für das Leben Unerlässliche vorübergehend zu bieten und zum Aufbau eigener Erwerbsmöglichkeiten verhelfen zu können, ohne selbst existenziell gefährdet zu werden (Leistungsfähigkeit). Des Weiteren ist entscheidend, ob die betroffene Person moralisch erwarten kann, von den Familienangehörigen unterstützt zu werden (Leistungswille). Dafür ist unter anderem entscheidend, ob bisherige Bindungen zu Familien- und Clanangehörigen wegen nonkonformen Verhaltens abgebrochen wurden und ob erwartet werden kann, dass sich die zurückkehrende Person wieder in die dortigen religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse einfügt und die entsprechenden Regeln und Normen erfüllt.

4. Für den Kläger, der dem Minderheitenclan der Ashraf angehört, dessen Familienangehörige nicht leistungsfähig sind, der über keine ausreichende Schulbildung verfügt und Somalia vor langer Zeit als Jugendlicher verlassen hat, ist davon auszugehen, dass im Fall einer Rückkehr eine existenzielle Bedrohung eintritt und mithin ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Hannover, Urteil vom 03.04.2023 - 4 A 4221/21 - asyl.net: M31510)

Schlagwörter: Somalia, Abschiebungsverbot, Ashraf, Familienangehörige, Clanangehörige, Leistungswille, Leistungsfähigkeit, Existenzgrundlage, Dürre, Hunger, Wasserversorgung, Wohnraum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Indes besteht ein Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Insoweit ist der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Ziff. 4 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO). [...]

2. Der Kläger wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der allgemeinen Lage in Somalia unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation einer nach Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein. Die in Somalia derzeit zu erwartenden Lebensbedingungen sind insgesamt sehr schlecht und weisen im vorliegenden Einzelfall für den Kläger eine solche Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen eine unmenschliche Behandlung beachtlich wahrscheinlich ist. [...]

Somalia befindet sich aufgrund politischer, sozioökonomischer und Umweltfaktoren in einer anhaltenden humanitären Krise. Dies beruht auf andauernden Konflikten, in ihrer Häufigkeit zunehmende und klimabedingte Umweltprobleme, der allgemeinen Wirtschaftssituation und den Ausbrüchen übertragbarer Krankheiten [...]. Aufgrund des jahrzehntelangen Bürgerkriegs ist bereits ein Drittel der somalischen Bevölkerung unabhängig von ausbleibenden Regenfällen auf externe Hilfen angewiesen [...]. Aktuell herrscht die schwerste Dürre seit drei Jahrzehnten [...], nachdem seit Ende 2020 alle Regenzeiten unterdurchschnittlich ausfielen [...].

Besonders prekär sind die in Somalia herrschende Nahrungsmittelknappheit und die gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel. Nach der Klassifizierung der Ernährungsunsicherheit (Integrated Phase Classification for Food Security - IPC), die fünf Stufen der Lebensmittelknappheit (von Stufe 1 = minimale Unsicherheit bis Stufe 5 = herrschende Hungersnot) unterscheidet, sind in Somalia die Stufen 2 (angespannte Ernährungslage) und 3 (kritische Ernährungslage) weit verbreitet [...]. Mit Stand Februar 2023 befanden sich ca. 3,5 Millionen Menschen in IPC-Stufe 3 (20,8 % der Bevölkerung), ca. 1,4 Millionen in Stufe 4 (8 %) und 96.000 in Stufe 5 (Hungersnot; 0,6 %). Die meisten Nomaden befinden sich in IPC-Stufe 3 oder 4. Auch viele IDPs sind schwer betroffen. Die meisten armen Stadtbewohner finden sich in IPC-Stufe 3. [...]

Besondere Probleme bei der Unterkunftssuche stellen sich für rückkehrende alleinstehende Frauen, da regelmäßig ein Bürge bei der Anmietung oder dem Ankauf eines Objekts erforderlich ist, der in der Regel ein Mann sein muss [...].

Binnenvertriebene sind zudem von Zwangsräumungen bedroht. [...]

Sehr angespannt ist auch die Situation hinsichtlich des Zugangs zur Wasser-, Sanitär- und Hygieneversorgung (WASH). 41 % der Bevölkerung haben keinen Zugang zu einer regelmäßigen stabilen Trinkwasserquelle. Insbesondere in den von der Dürre betroffenen Gebieten fehlt es am Zugang zu Wasser [...]. Ca. 8,9 Millionen Menschen und damit etwa die Hälfte der Bevölkerung leben in Somalia unter schlechten WASH-Bedingungen und die Zahl der auf humanitäre WASH-Unterstützung angewiesenen Personen beläuft sich schätzungsweise auf 4,6 Mio. [...]

Zu den vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen in Somalia gehören Binnenvertriebene, wobei Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderung, Minderheitengruppen, Menschen ohne Clanzugehörigkeit, von Kindern oder Frauen geführte Haushalte, Überlebende von Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung sowie ältere Menschen ohne Unterstützung zu der Gruppe der unter den Binnenvertriebenen am stärksten Gefährdeten zählen. [...] Die Mehrheit der Binnenvertriebenen lebt in sehr dicht belegten formellen Lagern unterschiedlichster Größe, in denen es an angemessenen Lebensbedingungen mangelt. Bei 85 % der Binnenvertriebenenlager handelt es sich um informelle Standorte auf privaten Flächen. Dies führt zu einem erhöhten Risiko der Vertreibung [...].

Für die Rückkehrprognose ist mithin neben der schulischen Bildung und beruflichen Qualifikation des Betroffenen (bzw. ggf. deren Fehlen) die Qualität des Empfangsraumes von herausragender Bedeutung, d.h. ob der Betroffene nach seiner Rückkehr vor Ort Unterstützung bei Personen oder Institutionen finden kann. Dafür kommen in erster Linie Familienangehörige in Betracht, wozu regelmäßig auch sehr weit entfernte Angehörige des eigenen Clans zählen. Grundsätzlich kann jeder auch bei einer lange zurückliegenden Ausreise erwarten, dass Familie im erweiterten Sinne des Clans existiert und Unterstützung bietet [...]. Indes müssen diese zum einen selbst in der Lage sein, dem Zurückkehrenden zumindest vorübergehend das für das Leben Unerlässliche bieten zu können sowie ihm zum Aufbau eigener Erwerbsmöglichkeiten verhelfen zu können, ohne selbst existentiell gefährdet zu werden (Leistungsfähigkeit). Dies hängt regelmäßig davon ab, ob der Betroffene einem - leistungsfähigen - Mehrheitenclan oder einer somalischen Minderheit, deren Mitgliedern die Möglichkeit zur Hilfestellung fehlen können, angehört [...]. Daneben bieten auch im Ausland lebende Verwandte einen Rückhalt durch zu erwartende Remissen [...]. Des Weiteren ist entscheidend, ob der Betroffene moralisch erwarten kann, unterstützt zu werden [...]. Davon ist grundsätzlich bei Clanangehörigen auszugehen, es sei denn die bisherigen Bindungen des Betroffenen zu (engeren) Familien- oder Clanangehörigen sind nicht nur faktisch unterbrochen, sondern abgebrochen, weil es an normkonformem Verhalten des Betroffenen gefehlt hat. Darüber hinaus ist von Bedeutung, ob vom Betroffenen erwartet werden kann, dass er sich nach seiner Rückkehr wieder in die dortigen religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse einfügt und Regeln und Normen erfüllt. Im Falle einer Rückkehr ist daher die Leistungsfähigkeit des familiären Netzwerks und der Umstand, inwieweit diese vom Ausland her gepflegt bzw. deren Mitglieder in Somalia unterstützt worden sind, von zentraler Bedeutung [...]. Die verwandtschaftliche Solidarität gilt dabei sowohl für Frauen als auch für Männer, solange sie die von ihnen erwarteten moralischen Normen erfüllen [...].

b) Für den Einzelfall des Klägers gilt unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen, dass eine existenzielle Bedrohung anzunehmen ist. Der Kläger gehört seinen eigenen Angaben nach dem Clan der Ashraf, einem Minderheitenclan, an. Der Kläger verfügt über keine ausreichende Schulbildung. Die Familienangehörigen des Klägers sind für ihn teilweise schlecht zu erreichen und finanziell nicht so leistungsfähig, dass sie ihn zumindest in einer Anfangszeit unterstützen können. Hinzu kommt, dass es ihm als alleinstehenden Mann in Mogadischu zumindest vorübergehend nicht gelingen dürfte, einen ausreichenden und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Hinzu kommt, dass der Kläger Somalia vor einer langen Zeit als Jugendlicher verlassen hat und eine wesentliche Zeit seiner Entwicklung in Europa verbracht hat. [...]