VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 12.02.2024 - 1 K 2118/22.KS.A - asyl.net: M32252
https://www.asyl.net/rsdb/m32252
Leitsatz:

Asylfolgeantrag wegen Wehrpflicht in der Russischen Föderation zulässig:

1. Der Asylfolgeantrag des Klägers ist zulässig, weil er vorträgt, dass er nunmehr 18 Jahre alt ist und daher der Wehrpflicht in der Russischen Föderation unterliegt. Damit hat sich die Sachlage gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG geändert und es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass ihm aufgrund der Wehrpflicht auch die Einberufung in den Ukraine-Krieg und mithin ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 AsylG droht.

2. Die Frage, ob wehrdienstpflichtigen Personen tatsächlich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Einberufung in den Ukraine-Krieg droht, ist in der Rechtsprechung umstritten. Allerdings muss diese Frage hier nicht beantwortet werden, da es innerhalb des Folgeverfahrens nur darum geht, ob durch die veränderte Sachlage eine günstigere Entscheidung zumindest möglich erscheint.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Berlin, Urteil vom 20.03.2023 - 33 K 143.19 A (Asylmagazin 7-8/2023, S. 260 ff.) - asyl.net: M31617)

Schlagwörter: Russische Föderation, Militärdienst, Wehrpflicht, Änderung der Sachlage, Asylfolgeantrag, Volljährigkeit, Ukraine-Krieg, Einberufung
Normen: AsylG § 71 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Eine Änderung der Sachlage i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, auf die sich der Kläger vorliegend beruft, ist anzunehmen, wenn sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände so verändert haben, dass eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung möglich erscheint [...]. Hierfür genügt schon ein schlüssiger Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Anerkennung zu verhelfen [...]

Der Kläger hat eine solche neue Sachlage vorgetragen, nämlich dass er seit seinem Erreichen des 18. Lebensjahres der Wehrpflicht in der Russischen Föderation unterliegt.

Die Verpflichtung zum allgemeinen Wehrdienst in der Russischen Föderation trifft nach dem Föderalen Gesetz Nr. 53-FZ über die Wehrpflicht und den Militärdienst vom 28. März 1998 und der Verordnung über die Wehrerfassung vom 27. November 2006 (im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der Fassung vom 20. Juli 2020) grundsätzlich unterschiedslos alle Männer im Alter zwischen 18 bis 27 Jahren, die russische Staatsbürger sind und sich in der Russischen Föderation dauerhaft aufhalten bzw. dort gemeldet sind [...]. Der Kläger steht damit im Falle seiner Rückkehr als Wehrpflichtiger in den kommenden Jahren für die zwei Mal jährlich stattfindenden Einberufungskampagnen zum Grundwehrdienst zur Verfügung. Eine neue Sachlage wurde folglich vorgetragen.

Ob dem Kläger tatsächlich die Einberufung droht, was angesichts des Umstands, dass lediglich ca. ein Drittel der Wehrpflichtigen auch den Militärdienst antreten muss, durchaus zweifelhaft sein kann, muss vorliegend nicht entschieden werden, denn es ist im Sinne o.a. Rechtsprechung jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen, dass dieser Umstand zu einer Zuerkennung subsidiären Schutzes führen kann. Die Rechtsprechung ist in diesem Punkt derzeit nicht einheitlich; beispielsweise hat das VG Berlin (Urteil vom 11. August 2023 - 12 K 48/23 A -, juris) festgestellt, dass bei einer Einziehung als Grundwehrdienstpflichtiger hinreichend wahrscheinlich die Entsendung in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und damit eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht und einem russischen Wehrpflichtigen den subsidiären Schutzstatus zuerkannt (so inzwischen auch VG Bremen, Urteil vom 5. Dezember 2023 - 6 K 535/20 -, juris). Demgegenüber nimmt das VG Dresden in einer älteren Entscheidung (Urteil vom 24. Januar 2023 - K 940/21.A -, juris) an, dass eine Einberufung eines ungedienten Wehrpflichtigen nicht beachtlich wahrscheinlich sei. Diese Auffassung wird auch von dem VG Potsdam (Urteil vom 10. Mai 2023 - 6 K 352/18.A -, juris) geteilt.

Die Sachlage ist damit als offen anzusehen, jedenfalls ist es nicht ausgeschlossen, dass der Kläger eingezogen und damit auch in dem Ukraine-Krieg eingesetzt werden könnte, wo ihm eine unmenschliche Behandlung drohen kann.

Anders als dies das Bundesamt meint, ist es auch nicht offensichtlich, dass sich der Kläger dieser Gefahr durch eine Anerkennung als Zivildienstleistender entziehen kann. [...]

Ob tatsächlich dem Kläger der subsidiäre Schutz zuzuerkennen ist, bleibt offen, denn vorliegend ist lediglich die Frage zu entscheiden, ob das Bundesamt den Folgeantrag des Klägers wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylG ablehnen durfte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum sog. "Verbot des Durchentscheidens" bei Asylfolgeanträgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris) ist das Verwaltungsgericht nicht befugt, im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylG selbst über das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen von Asylanerkennung, Flüchtlingsschutz oder subsidiärem Schutz zu entscheiden, denn dies obliegt allein dem Bundesamt. [...]