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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 01.03.2024 - 1 A 59/22 - asyl.net: M32323
https://www.asyl.net/rsdb/m32323
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für palästinensisches Kleinkind mit Eltern aus dem Libanon:

1. Die Gefechte zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah entlang der libanesisch-israelischen Grenze rechtfertigen nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG, weil sie weitestgehend auf das Grenzgebiet beschränkt sind und mithin zumindest interner Schutz gemäß § 3e Abs. 1 S. 1 AsylG in anderen Landesteilen zu finden wäre. Das gilt auch angesichts der unübersichtlicheren Sicherheitslage im Libanon und der Möglichkeit des Zusammenbruchs des libanesischen Staates.

2. Ein staatenloses Kind palästinensischer Volkszugehörigkeit, das außerhalb des Libanon geboren wird, kann bei UNRWA im Libanon nachregistriert werden, wenn ein Elternteil bei UNRWA im Libanon registriert ist.

3. Die Versorgungslage für die bei der UNRWA registrierte palästinensische Bevölkerung im Libanon ist zwar sehr schlecht. Allerdings lässt sich nicht pauschal feststellen, dass deshalb stets eine mit Art. 3 EMRK unvereinbares Fehlen der Existenzsicherung bei der Rückkehr in den Libanon droht. Eine entsprechende Gefahr wäre nur dann anzunehmen, wenn individuelle Umstände der Betroffenen hinzutreten würden.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Potsdam, Urteil vom 29.08.2023 – 8 K 2551/20.A – asyl.net: M31997)

Schlagwörter: Libanon, UNRWA, Palästinenser, Familienangehörige, Existenzminimum, Existenzgrundlage, Wirtschaftskrise
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Auszüge:

[...]

I.

1. Zur Begründung verweist die Einzelrichterin zunächst auf die Ziffern 1 bis 3 des angefochtenen Bescheids, dessen Begründung sie folgt (§ 77 Abs. 3 AsylG).

Ergänzend wird darauf verwiesen, dass die aktuelle Sicherheitslage im Libanon nach wie vor keine Zuerkennung des subsidiären Schutzes rechtfertigt. [...]

Die Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die allgemeine Sicherheitslage ist durch die Proteste und den wirtschaftlichen Niedergang des Landes seit 2019 zwar unübersichtlicher geworden [...]. Der Zusammenbruch des libanesischen Staates wird als möglich ("real possibility") angesehen [...]. Diese Gefahr ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung allerdings (noch) nicht eingetreten. Auch ergibt sich aus den Angriffen Israels auf libanesisches Territorium nichts. Seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 kommt es entlang der libanesisch-israelischen Grenze fast täglich zu wechselseitigen Gefechten und Bombardements unterschiedlicher Intensität insbesondere zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah [...]. Derzeit schrecken beide Seiten aber vor weitergehenden Auseinandersetzungen zurück [...]. Die Auseinandersetzungen beschränken sich mit Ausnahme dieses konkret gegen eine Hisbollah-Einrichtung gerichteten Angriffs der israelischen Armee aber weiterhin auf die Grenzregion. Damit bestehen weiterhin inländische Fluchtalternativen.

2. Auch ein Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 AufenthG besteht nicht. [...]

Der Libanon ist aus eigener Kraft weder in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren noch substanziell den eigenen Staatshaushalt nachhaltig zu finanzieren [...].

Die politischen Institutionen des Landes sind größtenteils handlungsunfähig und aufgrund parteipolitischer Differenzen nahezu komplett blockiert. [...]

Die Wirtschaftskrise beeinflusst das tägliche Leben im Libanon stark negativ. Staatliche Subventionen für Grundnahrungsmittel und Energieträger wurde beendet. Insbesondere die Preise für Lebensmittel sind so stark gestiegen, dass viele Geschäfte vorübergehend gar keine Lebensmittel mehr anbieten können und sich die Preise unter anderem für Grundnahrungsmittel vervielfacht haben. Die Verteuerung der Lebensmittel lag bei circa 200 % Stand Juni 2020 [...]. Die Verteuerung einiger Grundnahrungsmittel hat bis August 2021 sogar 350 % erreicht [...].

Die ökonomische Lage der Palästinenser im Libanon ist noch schlechter als die der libanesischen Bevölkerung. Die bei der UNRWA registrierten Palästinenser gelten nach libanesischem Recht als Ausländer [...]. Ihnen werden politische und wirtschaftliche Rechte verwehrt [...], was den Zugang zum strapazierten Arbeitsmarkt einschränkt. Mehr als 85 % der erwachsenen arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitet in der sog. informellen Wirtschaft im Niedriglohnsektor [...].

Etwa 45 %der palästinensischen Bevölkerung lebt unter zum Teil sehr schwierigen und beengten Verhältnissen in den zwölf über das Land verteilten palästinensischen Flüchtlingslagern (ebd.). [...]

Die UNRWA ist, wie ausgeführt, chronisch unterfinanziert und musste auch in den letzten Jahren immer wieder kurzfristig mit teils dramatischen Aufrufen um Mittel der internationalen Staatengemeinschaft bitten. [...]

Insoweit sind die wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage für die bei der UNRWA registrierte palästinensische Bevölkerung im Libanon zwar sehr schlecht. Allerdings lässt sich vor diesem Hintergrund nicht pauschal feststellen, dass stets eine ernsthafte Gefahr einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren fehlenden Existenzsicherung bei der Rückkehr in den Libanon besteht. Eine hiervon abweichende Bewertung ergibt sich hier auch einzelfallbezogen nicht, weil zu den schlechten humanitären Verhältnissen keine ganz außerordentlichen individuellen Umstände hinzutreten, um diese als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifizieren zu können. Die Einzelrichterin geht zunächst davon aus, dass die Klägerin gemeinsam mit ihren Eltern und den mittlerweile fünf Geschwistern in den Libanon zurückkehren wird [...]. Die Klägerin kann als Tochter eines bei der UNRWA registrierten palästinensischen Volkszugehörigen dort nachregistriert werden [...]. Im Rahmen der familiären Einstandsgemeinschaft, wie sie hier vorliegt, ist davon auszugehen, dass die Eltern für einen angemessenen Unterhalt des Kindes sorgen, zumindest aber die Existenz des Kindes auch finanziell sicherstellen, soweit und solange sie hierzu in der Lage sind [...]. Dass das hier der Fall sein wird, ergibt sich bei der hypothetischen, aber realitätsnahen Betrachtung zum einen daraus, dass die Eltern der Klägerin überdurchschnittlich gut ausgebildet sind und sich bereits vor der Ausreise aus dem Libanon auf dem damals schon schwierigen Markt behaupten konnten. Die Lage ist für sie nach jahrelanger Abwesenheit und der Geburt von mittlerweile sechs Kindern in Deutschland deutlich schwieriger geworden. Sie ist aber nicht aussichtslos, auch wenn die Klägerin und ihre Familie bei der Rückkehr nicht mit der Zuweisung einer Wohnung rechnen können. Zunächst gibt es weiterhin die Leistungen der UNRWA, die der Familie zur Verfügung stehen werden. Gerade in G. leben weiterhin acht Geschwister väterlicherseits, von denen nach Darstellung des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung niemand obdachlos ist. Sie sind danach überwiegend arbeitslos und haben zum Teil jedenfalls auch Kinder. Es ist realitätsnah zu erwarten, dass sie die Eltern der Klägerin bei der Betreuung der noch nicht schulpflichtigen Geschwister unterstützen werden, so dass beide Eltern werden arbeiten können, auch wenn sicher jedenfalls zunächst keine ausbildungsadäquate Stelle für die Eltern zu erwarten sein wird. [...]

Vor diesem Hintergrund schließt sich die Einzelrichterin für den vorliegenden Einzelfall nicht der rechtlichen Einschätzung des Verwaltungsgerichts Dresden (Urt. v. 19.12.2023 - 11 K 1955/21.A - zu einem alleinerziehenden palästinensischen Vater mit vier Kindern) und des Verwaltungsgerichts Potsdam (Urt. v. 29.08.2023 - 8 K 2551/20A - zu einer palästinensischen Mutter von Kindern im mittleren Alter mit in Deutschland lebendem libanesischen Ehemann von 50 Jahren), die jeweils ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG angenommen haben und auf deren Entscheidungen der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat. [...]