Nur bei exponierter exilpolitischer Betätigung iranischer Personen ist von einer drohenden politischen Verfolgung bei Rückkehr auszugehen:
"1. Allein der Umstand, dass sich eine Person in Deutschland (länger) aufgehalten und einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr in den Iran nach wie vor nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung aus.
2. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt bei der Rückkehr in den Iran durchgeführte Befragungen stellen für sich genommen ohne das Hinzutreten besonderer Umstände keine relevanten, einen Schutzstatus begründende Handlungen im Sinne von § 3a AsylG dar. Entsprechendes gilt für eine etwaige Bestrafung wegen illegaler Ausreise.
3. a. Der Senat hält in Auswertung des aktuellen Erkenntnismaterials an seiner Einschätzung fest, wonach eine exilpolitische Betätigung eines iranischen Staatsangehörigen (erst) dann schutzrechtlich relevant ist, wenn sie in einem nach außen hin in exponierter Weise erfolgtem Auftreten besteht.
b. Welche Anforderungen in tatsächlicher Hinsicht an eine exilpolitische Tätigkeit gestellt werden müssen, damit sie in diesem Sinne als exponiert anzusehen ist, lässt sich nicht allgemein beantworten. Maßgeblich ist, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen herausheben und als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner erscheinen lassen.
c. Je größer öffentliche Sichtbarkeit, Reichweite und (potentieller) Einfluss des Betreffenden sind, umso eher wird dieser bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen müssen.
d. Neben der Möglichkeit der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung kann auch die Bedeutung bzw. Funktion einer Person innerhalb der iranischen Diaspora bzw. für eine Aktion oder Demonstration maßgeblich dafür sein, ob jemand als "Schlüsselperson" in den Fokus der iranischen Behörden gerät."
(Amtliche Leitsätze; siehe auch: VG Würzburg, Urteil vom 30.10.2023 - W 8 K 23.30338 - asyl.net: M32034; anderer Ansicht: VG Hamburg, Urteil vom 20.07.2023 - 10 A 4016/21 - asyl.net: M31983)
[...]
B. Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. [...]
I. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den §§ 3 ff. AsylG liegen vor. [...]
Zwar begründet allein der mehrjährige Aufenthalt des Klägers im Ausland und seine Asylantragstellung in Deutschland keine solche Verfolgungsgefahr (a.). Entsprechendes gilt mit Blick auf die (wohl) illegale Ausreise des Klägers aus dem Iran und eine zu erwartende Befragung bei einer Rückkehr dorthin (b.). Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich aber - selbst wenn man davon ausgeht, dass der Kläger unverfolgt aus dem Iran ausgereist ist - jedenfalls aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger den Iran verlassen hat, nämlich seine exilpolitische Tätigkeit (c.).
a. Es ist nicht anzunehmen, dass dem Kläger bereits wegen seines mehrjährigen Auslandsaufenthalts oder seiner Asylantragstellung in Deutschland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Rückkehrfall Verfolgung droht. Allein der Umstand, dass sich eine Person in Deutschland (länger) aufgehalten und ggf. einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr in den Iran nach wie vor nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Repressionen aus [...]
b. Nur im Einzelfall und nach Feststellungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe mit erhöhter Wahrscheinlichkeit nach einem längeren Auslandsaufenthalt bei der Rückkehr in den Iran durchgeführte Befragungen [...] stellen für sich genommen ohne das Hinzutreten besonderer Umstände ebenfalls keine relevanten, einen Schutzstatus begründende Handlungen im Sinne von § 3a AsylG dar [...].
Es gibt keine Erkenntnisse, dass diese Befragungen regelmäßig von Handlungen von Verfolgungsintensität begleitet werden [...]
Insbesondere sind bisher keine Fälle bekannt, in denen Zurückgeführte im Rahmen der Befragung bei Rückkehr psychisch oder physisch gefoltert worden sind [...]
Insoweit haben sich Einreiseverfahren für Iraner laut einer Auskunft des Danish Immigration Service auch nach dem Ausbruch der inzwischen weitgehend abgeflauten Proteste im September 2022 nicht geändert. [...]
Nichts anderes folgt daraus, dass der Kläger (wohl) illegal ausgereist ist, d. h. den Iran verlassen hat, ohne eine Grenzübergangsstelle zu passieren. Zwar ist in diesen Fällen bei einer Rückkehr mit einer Befragung und einer auf Grundlage von Art. 34 und 35 des iranischen Passgesetzes erfolgenden Bestrafung der illegal ausgereisten Person zu rechnen, die durch eine Geld- oder Haftstrafe erfolgen kann. Wird die ausgereiste Person nicht weiter von den Behörden gesucht, wird die bloße Tatsache der illegalen Ausreise nach Auskunft des niederländischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, dass sich insoweit u. a. auf Angaben einer Quelle aus April 2023 beruft, allerdings in der Regel lediglich mit einer Geldstrafe geahndet [...]
In Befragung und etwaiger Bestrafung als solcher liegt jedoch schon deshalb keine (drohende) Verfolgung i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, weil sie nicht wegen eines Verfolgungsgrundes (vgl. § 3b AsylG) erfolgt [...]
c. Unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran jedoch Verfolgung wegen seiner durch exilpolitisches Engagement erkennbar gewordenen politischen Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG).
aa. Der Senat hält in Auswertung des aktuellen Erkenntnismaterials an seiner Einschätzung fest, wonach eine exilpolitische Betätigung eines iranischen Staatsangehörigen (erst) dann schutzrechtlich relevant ist, wenn sie in einem nach außen hin in exponierter Weise erfolgtem Auftreten besteht. Welche Anforderungen dabei in tatsächlicher Hinsicht an eine exilpolitische Tätigkeit gestellt werden müssen, damit sie in diesem Sinne als exponiert anzusehen ist, lässt sich nicht allgemein beantworten. Maßgeblich ist, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen herausheben und als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner erscheinen lassen [...].
Je größer öffentliche Sichtbarkeit, Reichweite und (potentieller) Einfluss des Betreffenden sind, umso eher wird dieser bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen müssen. Dies ist für jeden Einzelfall - unter Berücksichtigung der konkreten exilpolitischen Tätigkeit - gesondert vor dem Hintergrund der aktuellen (verschärften) allgemeinen Lage im Iran [(1.)] anhand der besonderen Umstände zu untersuchen, die nach der Erkenntnislage dafür maßgeblich sind, ob exilpolitisches Engagement durch das iranische Regime wahrgenommen und sanktioniert wird [...]
(2.) Bei der Beurteilung der Verfolgungsgefahr gerade aufgrund exilpolitischer Aktivitäten ist unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage derzeit von Folgendem auszugehen:
Der iranische Staat überwacht oppositionelle Gruppierungen und Einzelpersonen auch im Ausland und bedient sich dabei nachrichtendienstlicher Mittel einschließlich solcher der Cyberspionage. Laut dem Verfassungsschutzbericht 2022 des Bundesministeriums des Inneren stellt die Bekämpfung oppositioneller Gruppierungen und Einzelpersonen im In- und Ausland den Schwerpunkt iranischer nachrichtendienstlicher Aktivitäten dar. Diese gelten aus Sicht der Machthaber im Iran als Gefährdung für den Fortbestand des Regimes. Iranische Behörden - namentlich das Ministerium für Nachrichtenwesen und Sicherheit (MOIS) und der Nachrichtendienst der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) - setzen danach staatsterroristische Mittel ein, um Oppositionelle auch im Ausland einzuschüchtern und zu neutralisieren sowie "Verräter" oder "Überläufer" zu bestrafen. Ihre Methoden reichen von Bedrohungen in sozialen Medien über die Anwendung physischer Gewalt bis hin zu aufwendigen, komplexen und professional durchgeführten Entführungen hochrangiger Zielpersonen, denen anschließend im Iran Schauprozesse und Hinrichtung drohen [...]
Dabei liegt das Hauptaugenmerk der iranischen Dienste auf dem Schutz des islamischen Regimes. Ziel der Aufklärung ist deshalb die Identifizierung jeglicher Aktivitäten, die dessen Kontrolle und Autorität gefährden und untergraben könnten [...].
Es gibt jedoch keine Erkenntnisse, die die Annahme rechtfertigen, dass der Iran zu einer lückenlosen (Total-)Überwachung sämtlicher exilpolitischer Aktivitäten weltweit in der Lage ist. Zwar wurde die Überwachung möglicher Regimekritiker infolge der Unruhen nach dem Tod von Jîna Mahsa Amini im September 2022 verstärkt. Zugleich ist aber auch die Anzahl der aus Sicht des Regimes potentiell überwachungswürdigen Aktivitäten im Ausland und im Iran selbst erheblich gestiegen [...].
Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass die iranischen Sicherheitsdienste ihre begrenzten Ressourcen im Allgemeinen dort einsetzen, wo sie die größte Gefahr für das islamische Regime vermuten. [...]
Von Überwachung betroffen sind deshalb etwa Personen, die über soziale Medien oder sonst online mit einer hohen Reichweite und Vernetzung aktiv sind, Personen, die auf Fernsehsendern wie Iran International oder Y. (VOA) zu sehen sind, Angehörige von im Iran verbotenen Parteien und Organisationen sowie Journalisten [...].
Neben der Möglichkeit der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung kann auch die Bedeutung bzw. Funktion einer Person innerhalb der iranischen Diaspora bzw. für eine Aktion oder Demonstration entscheidend dafür sein, ob jemand als "Schlüsselperson" in den Fokus der iranischen Behörden gerät. Überwacht werden eher Anführer, Organisatoren und Redner, während etwa einfache Teilnehmer an Demonstrationen eine Überwachung ihrer Aktivitäten und daran anknüpfende "Sanktionen" eher nicht befürchten müssen [...].
Schließlich stehen Diaspora-Netzwerke und jede Form politischer Organisation im Fokus der iranischen Behörden [...], wobei die Frage einer einem Mitglied aus seiner Mitgliedschaft erwachsenden Verfolgungsgefahr eine solche des Einzelfalles und von der jeweiligen Organisation sowie der Stellung des Mitglieds darin und dessen Verhalten abhängig ist.
Personen, die sich nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen exilpolitisch exponiert betätigt haben und deshalb für die iranischen Behörden als Regimegegner erkennbar geworden sind, sind bei einer Rückkehr in den Iran von Repressionen bedroht. Womit sie konkret zu rechnen haben, hängt - wie auch bei Repressionen wegen politischer Aktivitäten im Iran selbst - davon ab, wie das häufig willkürlich handelnde Regime die exilpolitischen Aktivitäten und Äußerungen im Einzelfall bewertet. Zu erwarten sind extralegale Einschüchterung, Schikane und Gewalt durch Amtspersonen und Anhänger des Regimes. Darüber hinaus kommen auf Grundlage der mitunter bewusst unbestimmt formulierten (Straf-)Gesetze - beispielsweise Art.500 (Propaganda gegen die Islamische Republik), Art. 501 (Spionage) und Art. 610 (Bedrohung der nationalen Sicherheit) des islamischen Strafgesetzbuchs - insbesondere auch (straf-)rechtliche Sanktionen wie Beschäftigungsverbote, Ausreisesperren sowie die Verhängung von Geld-, Haft- und sogar Todesstrafe zur Anwendung. Im Iran Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (physische und psychische Folter). [...]
bb. Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnislage droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung. Er hat sich bereits durch die Veröffentlichung eines Videos im Herbst 2019 vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus unter Berücksichtigung des Inhalts [(1.)], der Verbreitung [(2.)] und der Rezeption [(3.)] dieses Videos im Iran in exponierter Weise und damit flüchtlingsrechtlich relevant exilpolitisch betätigt. [...]