Keine Rücküberstellung nach Italien
1. Wenn der erste Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, ist ein zweiter Asylantrag kein Folgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylG, sondern ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens i.S.d. § 51 VwVfG. Ein Folgeantrag setzt dem Sinn und Zweck nach voraus, dass über den ersten Antrag in der Sache entschieden wurde.
2. In Italien als schutzberechtigt Anerkannten droht bei Rücküberstellung nach Italien unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, insbesondere Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit.
3. In einem anderen Mitgliedstaat der EU Schutzberechtigte können nicht auf eine Beschäftigung in der dortigen sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" verwiesen werden. Schließlich gehen sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten gegen illegale Beschäftigungen vor.
(Leitsätze der Redaktion. LS 1.: A.A. VG Sigmaringen, Beschluss vom 14.12.2020 - A 13 K 1269/18 - juris; VG Ansbach, Urteil vom 20.08.2019 - AN 17 K 19.50538 - juris; LS 3.: ebenso VG Gelsenkirchen, Urteil vom 12.04.2024 - 1a K 4942/22.A - asyl.net: M32403; offen gelassen durch BVerwG, Beschluss vom 17.01.2022 – 1 B 66/21 –, asyl.net: M31153)
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(1) Nach Auswertung der Erkenntnismittel ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit kein Obdach im staatlichen Aufnahmesystem in Italien finden wird. Dies resultiert zum einen aus der Tatsache, dass die Kapazitäten des staatlichen Unterbringungssystems nicht ausreichend sind und zum anderen daraus, dass international Schutzberechtigte ihren Anspruch auf Unterbindung verwirken, wenn sie ihre Unterbringung ohne Genehmigung verlassen haben oder bereits für sechs Monate in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht waren. [...]
Hinzu kommt, dass selbst für den Fall, dass es grundsätzlich die hinreichende Möglichkeit einer Unterbringung im italienischen Zweitaufnahmesystem gäbe, diese dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verwehrt bliebe. [...]
Der Kläger kann nicht auf informelle Siedlungen oder besetzte Häuser als Ersatz für eine staatliche Unterbringung verwiesen werden. [...]
Darüber hinaus kann der Kläger auch nicht darauf verwiesen werden, dass von Seiten der Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen Unterkünfte angeboten werden. [...]
(3) Nach Einschätzung des erkennenden Gerichts wird es dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch nicht möglich sein, eine Unterkunft auf dem privaten Wohnungsmarkt zu erhalten. [...]
Der Kläger wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rücküberstellung nach Italien auch nicht in der Lage sein, Arbeit zu finden, sich mit dieser eine Wohnung anzumieten und sich selbst so versorgen, dass seine elementarsten Bedürfnisse erfüllt sein werden. [...]
(b) Der Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, sein menschenwürdiges Existenzminimum in der "Schatten- bzw. Nischenwirtschaft" zu erzielen. Zwar ist Schwarzarbeit in Italien weit verbreitet; etwa zehn Prozent der Bevölkerung arbeitet in diesem Bereich [...]. Insbesondere in der Landwirtschaft sollen viele Migrantinnen und Migranten bei der saisonalen Ernte irregulär arbeiten [...]. Das BVerwG hat die Aufnahme von Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft zwar grundsätzlich für zumutbar erachtet, dabei jedoch erkennbar nur die (normative) Zumutbarkeit einer (vorübergehenden) Tätigkeit in der "Schattenwirtschaft" im Allgemeinen in den Blick genommen. Gleichzeitig hat der Senat jedoch ausdrücklich betont, dass mangels Entscheidungserheblichkeit nicht abschließend zu würdigen war, ob insoweit ein weitergehender, abstrakt genereller (unionsrechtlicher) Klärungsbedarf zu den Maßstäben der Statthaftigkeit einer Verweisung auf die Ausübung einer Tätigkeit im Bereich der Schattenwirtschaft bestünde - etwa dahin, ob danach zu differenzieren ist, in welcher Weise der Staat gegen Schwarzarbeit vorgeht, auf wen eine etwaige Strafandrohung abzielt und wie sich der tatsächliche Bedarf an ausländischen Arbeitskräften in bestimmten Sektoren der Volkswirtschaft und die tatsächliche Praxis der Strafverfolgung darstellten [...]. Das erkennende Gericht geht davon aus, dass zumindest der Verweis eines anerkannt Schutzberechtigten auf eine illegale Tätigkeit dann ausscheiden muss, wenn der entsprechende Staat bzw. die Europäische Union rechtlich gegen Schwarzarbeit vorgeht [...]. Eines der Ziele der Europäischen Union ist die Bekämpfung von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit. Die Union hat mit "Beschluss (EU) 2016/344 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2016 über die Einrichtung einer europäischen Plattform zur Stärkung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit" eine Maßnahme gegen illegale Beschäftigung eingeleitet. Zudem hat der italienische Gesetzgeber bestehende Strafandrohungen verschärft und neue Straftatbestände gegen illegale Beschäftigung geschaffen [...]. Unerheblich ist in diesem Kontext zudem, dass Schwarzarbeit in Italien faktisch als "Kavaliersdelikt" angesehen wird und weit verbreitet ist [...], denn hier formen die unionsrechtlichen Grundsätze das Verweisungsverbot und nicht die faktischen Gegebenheiten im Mitgliedsstaat. Schließlich würde es einen Verstoß gegen das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) darstellen, wenn ein Mitgliedsstaat einerseits von einem anderen Mitgliedsstaat die Einhaltung von (gemeinsamen) Regelungen einfordert, indem er andererseits auf die Möglichkeit der Gesetzesüberschreitung in demselben Mitgliedsstaat verweist [...].
Unabhängig davon kann der Kläger aber auch deshalb nicht auf eine Tätigkeit in der "Schattenwirtschaft" verwiesen werden, weil diese ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in die Lage versetzen können wird, für sich eine den benannten unionsrechtlichen Anforderungen genügende Unterbringung und Versorgung zu erwirtschaften. Schwarzarbeit ist unter den Schutzberechtigten in Italien sehr verbreitet. Viele Geflüchtete arbeiten in der Landwirtschaft, z.B. in der saisonalen Erntearbeit, meist aber unter prekären Arbeitsbedingungen. Inzwischen gibt es mehrere Berichte, in denen die desaströsen Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor offengelegt werden. An vielen Tagen fänden die Erntehelfer zudem überhaupt keine Arbeit. Ihr monatliches Einkommen reichte nicht für ein menschenwürdiges Leben. Einige lebten in Camps ohne fließendes Wasser oder Elektrizität, andere in verlassenen Häusern oder Fabrikruinen, wieder andere schliefen im Freien (vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien - aktuelle Entwicklungen, 10.6.2021 , S. 13). Diese Einschätzung deckt sich mit den glaubhaften Schilderungen, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 24.1.2024 getätigt hat. Er berichtete von vergleichbaren Erfahrungen bei der Erntearbeit in Italien. Er beschreibt ein ausbeuterisches System, in dem Geflüchtete wie Sklaven behandelt würden. [...]