Rohingya droht an die Volkszugehörigkeit anknüpfende politische Verfolgung in Myanmar:
1. Rohingya sind aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrer Religion in Myanmar schweren Diskriminierungen ausgesetzt. Dazu zählen u.a. die extreme Einschränkung ihrer Reisefreiheit, Ausschluss vom Gesundheitssystem und der Schulbildung, von der politischen Teilhabe und der freien Glaubensausübung.
2. Jungen Rohingya droht durch das Regime eine gezielte Zwangsrekrutierung für den Einsatz gegen die Arakan Army. Eine Dienstverweigerung wird mit dem Tod bedroht.
3. Rohingya und andere Minderheiten, die keine Staatsangehörigen Myanmars sind, sind häufig nicht im Besitz von Identitätspapieren. Ende März 2015 sind die bisherigen Identifikationspapiere abgelaufen. Die neu eingeführten "Karten für Personen, deren Staatsangehörigkeit überprüft wird", finden wenig Akzeptanz in der Bevölkerung.
4. Auch vage Schilderungen der fluchtauslösenden Ereignisse sprechen nicht zwingend gegen eine Glaubhaftigkeit, wenn dies durch traumatische Ereignisse erklärbar wird. Je stärker Entsetzen und Angst einen Menschen erfüllen, desto weniger können traumatische Erlebnisse im biografischen Gedächtnis narrativ integriert werden.
(Leitsätze der Redaktion)
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Das Militär und andere Sicherheitskräfte begingen ab 2017 massive, breit angelegte Gewaltverbrechen gegen die Angehörigen der Rohingya. Diese Gräueltaten und die damit verbundenen Ereignisse haben mehr als 712.000 Rohingya gezwungen, nach Bangladesch zu fliehen [...]. Seit August 2017 wurden laut einem Bericht der Ontario International Development Agency (OIDA) fast 24.000 Rohingya von staatlichen Sicherheitskräften Myanrnars getötet und rund 18.000 Rohingya-Frauen und -Mädchen von Angehörigen der Armee oder der Polizei vergewaltigt. Über 115.000 Häuser der Rohingya wurden niedergebrannt und etwa 113.000 Häuser wurden zerstört. Die erfolgten Maßnahmen stellen ethnische Säuberungen gegen die Volksgruppe der Rohingya dar. Die Vereinten Nationen sehen darin eine "genozidale Absicht". [...]
Rohingya sehen sich aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, wie auch aufgrund ihrer Religion schweren Diskriminierungen ausgesetzt. Dazu zählen extreme Einschränkungen in Bezug auf ihre Reisefähigkeit, die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten, Erwerb von Bildung, die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, Einschränkungen bei der Registrierung von Geburten, Todesfällen und Eheschließungen, einer freien Ausübung ihres Glaubens und der politischen Partizipation. Rohingya sind auch Beschränkungen der religiösen Praxis ausgesetzt. Die meisten der 2012 vertriebenen Menschen blieben in Lagern mit stark eingeschränktem Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Lebensunterhalt. Für Eheschließungen werden von den Behörden offizielle Genehmigungen verlangt. Die Anzahl der Kinder, die registriert werden können, ist auf zwei pro Familie beschränkt. [...] Als Nicht-Staatsangehörige sind die Rohingya von einer politischen Teilhabe ausgeschlossen. Ohne Staatsbürgerschaft haben Rohingya keinen Zugang zu weiterführenden staatlichen Schulen. Angaben von Zivilgesellschaftsgruppen zufolge werden mit den auferlegten Beschränkungen durch die Regierung, Rohingya weiterhin die Möglichkeit genommen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, das Bildungsangebot zu nutzen und Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, einschließlich Krankenhäusern zu erhalten [...].
Die Militärjunta, die unter großen personellen Problemen leidet, hat in ihrer Not am 10. Februar dieses Jahres angekündigt, das Gesetz zur Wehrpflicht zu revidieren. [...] Das Regime hat gezielt Rohingya zwangsrekrutiert, um sie im Kampf gegen die aufständische Arakan Army einzusetzen - als "Kanonenfutter", wie Rohingya-Aktivisten sagen. [...]
Medienberichten zufolge sind Rohingya mit härteren Rekrutierungsmaßnahmen konfrontiert und werden im Falle der Dienstverweigerung mit dem Tod bedroht. Menschenrechtsorganisationen werfen dem Regime zudem vor, Rohingya als menschliche Schutzschilde einzusetzen. Mitte März 2024 wurden die Leichen von mindestens sieben Rohingya, die zuvor zum Eintritt in die Armee gezwungen worden waren, an ihre Familien in den Dörfern Thea Chaung Let Tha Mar Kone, Thet Kay Pyin und Thea Chaung zurückgegeben. Nach Junta-Angaben waren sie beim Fluchtversuch von Landminen getötet worden. Am 31.03.2024 starb ein muslimischer Mann aus Yangon während der militärischen Ausbildung, zu der er vier Tage zuvor eingezogen worden war. Am 09.04.2024 berichtete Human Rights Watch, dass das Militär seit Februar 2024 über 1.000 Rohingya, darunter Jungen im Alter von 15 bis 18 Jahren, aus Rakhine entführt und zwangsrekrutiert hat, obwohl Rohingya nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 1982 keine Bürgerinnen und Bürger Myanmars sind. 300 Rekruten aus einem Flüchtlingslager in Sittwe wurden bei der Einziehung Staatsangehörigkeitsausweise versprochen, nach Abschluss der militärischen Ausbildung jedoch nicht ausgestellt. Weitere Rekrutierungsrunden in dem Lager erfolgten in Form von bewaffneten Razzien. Schon seit Ausbruch des aktuellen Bürgerkriegs wird immer berichtet, dass Militärangehörige Menschen von der Straße entführen oder auf andere Weise zwingen, sich der Tatmadaw anzuschließen oder als Träger oder menschliche Schutzschilde für diese zu fungieren [...].
Zwar blieben in der mündlichen Verhandlung die Angaben des Klägers zu dem fluchtauslösenden Ereignis und den Umständen der Flucht - wie in den Anhörungen beim Bundesamt - weiterhin wenig anschaulich und detailreich. Für das Gericht spricht dies jedoch nicht entscheidend gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers und dagegen, dass es sich hier um die Schilderung eines selbst erlebten Geschehens handelt. Ein Szenario, in dem ein junger Mensch - 14 Jahre alt - sein Zuhause in Flammen aufgehen sieht, und er den Kontakt zu seinen Familienangehörigen verliert, kann wohl kaum anders als "traumatisierend" bezeichnet werden. Traumatische Ereignisse sind dadurch gekennzeichnet, dass die normalen Verarbeitungskapazitäten überfordert sind. Was "im Kopf nicht auszuhalten" ist, kann nicht in Worte gefasst und berichtet werden. Je stärker Entsetzen und Angst einen Menschen erfüllen, desto weniger können traumatische Geschehnisse im biographischen Gedächtnis narrativ integriert werden (Trauma Institut Mainz, Trauma - Splitter der Erinnerung, Januar 1, 2017, traumainstitutmainz.de/trauma-splitter-der-erinnerung). [...]
(b) Auch die Angaben des Klägers, dass er - wie auch seine Eltern - keine Personalpapiere besessen habe, fügen sich - entgegen der Auffassung der Beklagten in einem Vermerk vom 08.12.2020 - durchaus in die Auskunftslage ein.
In dem Vermerk der Beklagten vom 08.12.2020 heißt es, keine Personalpapiere besessen zu haben, sei eine häufige Behauptung von Nicht-Rohingya, die jedoch nicht der Wahrheit entspreche. Rohingya in Myanmar bekämen spezifische Personalpapiere, zumindest zu jener Zeit, in der sich der Kläger im Land befunden haben wolle.
Nach Einschätzung des Einzelrichters trifft diese Auffassung die Sache nicht ganz. Gemäß den Bestimmungen des Einwanderungsgesetzes von 1949 ist jeder Einwohner Myanmars verpflichtet, einen offiziellen Ausweis zu besitzen. Rohingya müssen sich einem Verifizierungsprozess gemäß dem Staatsbürgerschaftsgesetz von 1982 unterziehen. Rohingya verfügen über keine nationale Registrierungskarte - NRC -, sondern nur über eine nationale Verifizierungskarte - NVC - [...]. Die Anzahl der Kinder, die registriert werden können, ist auf zwei pro Familie beschränkt. Die lokale Umsetzung der Zwei-Kind-Richtlinie ist jedoch uneinheitlich und zum Großteil registrieren die Behörden auch weitere Kinder. Die meisten, bisher nicht registrierten Kinder wurden nun auch auf den Haushaltslisten vermerkt [...]. Ende März 2015 sind alle bisherigen Registrierungskarten - und somit das vorherrschende Identitätsdokument der Rohingya, aber auch von Personen indischer und chinesischer Abstammung abgelaufen. Im Juni 2015 verkündete die Regierung, dass all jene, die ihre Karte rechtzeitig abgegeben haben (was ca. 469.000 Personen betrifft), berechtigt sind, für neue Identitätskarten anzusuchen, die als "Karten für Personen, deren Staatsangehörigkeit überprüft wird" bezeichnet wurden. Der Grad der Akzeptanz der neuen Karten durch die Bevölkerung ist jedoch gering - hauptsächlich aufgrund eines Mangels an Vertrauen in diesen Prozess. Folglich sind die meisten Rohingya sowie andere Minderheiten, die keine Staatsangehörigen sind, ohne Identitätsdokument, was ihre Vulnerabilität steigert. [...]