Flüchtlingsanerkennung für bisexuelle Frau aus Nigeria:
Homosexuelle Menschen bilden in Nigeria eine soziale Gruppe.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Gemessen an diesen Maßstäben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Sie hat zur Überzeugung der Einzelrichterin dargelegt, dass sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung außerhalb ihres Herkunftslandes befindet. [...]
Homosexuelle bilden in Nigeria eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. [...]
Die Lage in Nigeria stellt sich, was Homosexualität anbelangt, wie folgt dar.
Homosexuelle Handlungen jeglicher Art sind - unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Personen - sowohl nach säkularem Recht als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar. Homosexuelle versuchen aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und weitverbreiteter Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen. Im Januar 2014 unterschrieb der frühere Präsident Goodluck Jonathan die sog. "Same Sex Marriage Bill". Danach können homosexuelle Handlungen mit Haftstrafen von bis zu 14 Jahren geahndet werden. Auch die bloße Mitwisserschaft ist strafbar. Im Ausland eingegangene gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder Ehen werden in Nigeria nicht anerkannt. Die "Same Sex Marriage Bill" wurde bisher von rund 10 Bundesstaaten in ihr landesrechtliches Strafgesetzbuch übernommen, zuletzt in Benue State im Juli 2018. Seit der Verabschiedung des neuen Gesetzes sind homosexuelle Personen noch häufiger Opfer von Mob-Angriffen und Polizeigewalt betroffen [...]. Die Verschärfung der Strafgesetze hat allerdings bisher nicht zu einer spürbar verschärften Strafverfolgung geführt [...] und ist es nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes noch nicht zu Verurteilungen nach dem neuen Gesetz gekommen [...]. Insgesamt gibt es keine systematische staatliche Verfolgung oder aktive Überwachung von Angehörigen sexueller Minderheiten. Zwar hat das Gesetz "Same Sex Marriage Prohibition Act" - SSMAP - bisher nicht zu einer flächendeckenden verschärften Strafverfolgung geführt, jedoch schafft es die Basis dafür, dass Personen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren drangsaliert, bedroht oder erpresst werden können. Diese werden oftmals von der Polizei schikaniert und misshandelt, von der Bevölkerung ausgegrenzt oder mittels Selbstjustiz verfolgt. Das Gesetz dient dabei zur Rechtfertigung von Menschenrechtsverletzungen wie Folter, sexueller Gewalt, willkürlicher Haft, Erpressung von Geld sowie Verletzung von Prozessrechten. Verhaftungen ziehen kaum Anklagen nach sich, sondern dienen in erster Linie der Erpressung. [...]. Die Klägerin hätte deshalb eine Ächtung und gewaltsame Übergriffe durch die Bevölkerung - wie sie sie schon durch einen gewaltsamen Übergriff von Männern aus ihrer Gegend erfahren hat -, ggf. auch Polizeigewalt zu befürchten [...].
Zwar hat die Klägerin angegeben, in Nigeria ihre Homosexualität grundsätzlich nicht in der Öffentlichkeit gelebt zu haben, jedoch kann von einem Asylbewerber nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung ausübt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden [...]. So hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung betont, es sei ihr wichtig, ihre Homosexualität auch in ihrem Heimatland frei und öffentlich auszuleben. Ebenso wenig kann die Klägerin darauf verwiesen werden aufgrund ihrer Bisexualität ihre Sexualität allein mit Männern auszuleben [...]. Unbeachtlich bleibt auch, dass nach Angaben der Klägerin im Hinblick auf ihre gesundheitlichen Belange - HIV-Erkrankung und Erkrankung an Hepatitis - das Ausleben ihrer Sexualität derzeit nicht im Vordergrund steht. Von einer nur zurückhaltend ausgelebten Sexualität darf nicht ohne weiteres auf ein fehlendes oder geringes Bedürfnis dazu geschlossen werden und Maßstab für die Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Herkunftsland sein [...].
Die Klägerin kann auch nicht auf internen Schutz nach § 3e AsylG verwiesen werden, da nicht ersichtlich ist, dass es hinsichtlich der Situation Homosexueller regionale Unterschiede gibt. Es ist nicht erkennbar, dass Homosexualität in größeren Städten oder urbanen Zentren mehr toleriert würde als in ländlichen Regionen. Die Gefahr von Misshandlungen und Übergriffen durch nichtstaatliche Akteure besteht landesweit. [...]