Vortrag ohne Belang:
1. Ein Asylantrag kann gem. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, wenn der Vortrag ohne Belang ist. Werden nur asylunerhebliche Gründe vorgetragen, aus denen auch bei Wahrunterstellung kein Schutzstatus folgen kann, ist der Vortrag ohne Belang.
2. Die Belanglosigkeit muss den gesamten Vortrag betreffen. Ist auch nur ein Umstand vorgetragen, der aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht als belanglos betrachtet werden kann, liegt keine offensichtliche Unbegründetheit vor.
3. Die Offensichtlichkeit kann auf mehreren der Katalogtatbestände des § 30 Abs. 1 AsylG beruhen. Diese können gleichzeitig vorliegen.
4. Zweifel an der Relevanz des Sachverhalts sind für eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nicht ausreichend. Werden bspw. illegale Festnahmen bzw. Misshandlungen wegen angeblicher Unterstützungshandlungen für die PKK geschildert, ist ein Anknüpfungspunkt für Verfolgungshandlungen nicht von vornherein unplausibel. Dies gilt auch für die Gefahr einer Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei.
5. Legt die Mitteilung einer anderen Behörde ein Untertauchen nahe, ohne aber hinreichende Informationen über den tatsächlichen Sachverhalt, der Grundlage der Mitteilung ist, zu enthalten, ist das Bundesamt verpflichtet, sich diese zu beschaffen, wenn es nach § 33 Abs. 1 S. 1 AsylG vorgehen will.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) hat den Asylantrag des Antragstellers zu Unrecht auf der Grundlage von § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG in der Fassung aufgrund des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) vom 21.02.2024 [...] als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang sind. Ohne Belang i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sind danach solche Umstände, die den Asylantrag offensichtlich nicht zu tragen vermögen. Nicht von Belang ist danach vor allem ein Vortrag, wenn aus ihm auch bei Wahrunterstellung rechtlich kein Schutzstatus nach Art. 16a GG, §§ 3 oder 4 AsylG folgen kann. In diesem Sinne ist der Antrag offensichtlich unbegründet, wenn sich der Asylbewerber auf grundsätzlich asylunerhebliche Gründe beruft. Allerdings darf kein vom Ausländer im Asylverfahren vorgetragener Umstand von Belang sein, damit das Offensichtlichkeitsurteil gerechtfertigt ist. Nicht über einzelne Asylgründe, sondern über den gesamten Asylantrag muss das Urteil der Belanglosigkeit fallen. Eine Differenzierung nach einzelnen Gründen findet insoweit im Ergebnis nicht statt. Kann auch nur hinsichtlich eines Grundes das Vorbringen aus tatsächlichen oder rechtlichen Erwägungen nicht als belanglos angesehen werden, ist der Asylantrag in Gesamtheit jedenfalls nicht nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG offensichtlich unbegründet. Erweist sich das Vorbringen des Asylsuchenden zu den von ihm geltend gemachten individuellen Vorfluchtgründen als derart irrelevant, dass es die Ablehnung als offensichtlich unbegründet rechtfertigt, so steht damit noch nicht fest, dass gleiches für die übrigen - selbständig zu beurteilenden - Verfolgungsgründe, etwa für geltend gemachte Nachfluchtgründe und damit für den Asylantrag insgesamt gilt [...].
Wird der Asylantrag nach § 30 Abs. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt, hat das Bundesamt eine zweigliedrige Begründung vorzunehmen. Zum einen ist darzulegen, warum der Asylantrag schlicht unbegründet ist. Zum anderen sind die Voraussetzungen des vom Bundesamt als einschlägig angesehenen Katalogtatbestandes darzutun. Dabei können sich die Gründe für die Unbegründetheit des Asylantrags mit denen für das Offensichtlichkeitsurteil überschneiden. Das Bundesamt kann zu dem Gesamtergebnis der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrags auch unter Heranziehung mehrerer Katalogtatbestände des § 30 Abs. 1 AsylG gelangen (Kombination der Katalogtatbestände). So kann etwa das Vorbringen des Ausländers hinsichtlich bestimmter Aspekte ohne Belang i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, hinsichtlich anderer Aspekte eindeutig unstimmig oder widersprüchlich i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sein. [...]
Wie oben bereits ausgeführt, knüpft das Merkmal der "Belanglosigkeit“ nicht an die Überzeugungsgewissheit des Prüfungsergebnisses an, sondern setzt vielmehr bei der Darlegung an. Das ist ein wesentlicher struktureller Unterschied [...]. Entgegen der Auffassung des Bundesamtes in dem angefochtenen Bescheid findet eine materielle Evidenzprüfung des offensichtlichen Nichtvorliegens geltend gemachter Umstände in diesem Kontext nicht statt.
Auch wenn Zweifel an der Relevanz der vom Antragsteller geschilderten Handlungen bestehen mögen, hat er einen Sachverhalt dargelegt - illegale Festnahme bzw. Misshandlungen wegen angeblicher Unterstützungshandlungen für die PKK bzw. Gefahr der Reflexverfolgung wegen gegen Familienangehörige gerichteter staatlicher Maßnahmen -, der vor dem Hintergrund der momentanen politischen Situation in der Türkei als Anknüpfungspunkt für die Nachstellungen zumindest nicht als von vornherein unplausibel erscheint. Dies gilt auch in Ansehung der obergerichtlichen Rechtsprechung zur Gefahr einer Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei [....].
Die Darlegungs- und Nachweislast zur Entkräftung der Vermutung trifft denjenigen, gegen den sie wirkt, hier also den Ausländer. Er muss nachweisen, dass das in § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 genannte Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte. Dasselbe gilt hinsichtlich der in § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 aufgeführten Handlungen. Die Widerlegung der Vermutung ist nicht gelungen, wenn das Versäumnis i.S.d. § 33 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bzw. die Handlungen i.S.d. § 33 Abs. S. 1 Nr. 2 und 3 vom Ausländer vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt worden sind. Im Ergebnis gilt nichts anderes, wenn der Ausländer allein deshalb keinen Einfluss auf die weiteren Umstände hatte, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat [...]. Aber auch dann, wenn äußere Umstände ursächlich waren, die der Ausländer nicht herbeigeführt hat, auf die er aber hätte einwirken können, ist die Vermutung nicht widerlegt. Vom Ausländer wird erwartet, dass er solche widrigen Umstände, die die von ihm geforderte Mitwirkung behindern, nicht hinnimmt sondern im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten aktiv im Sinne einer Verfahrensförderung entgegenwirkt. Der Ausländer kann sich auch nicht durch einen Verweis auf ein Versäumnis seines Bevollmächtigten exkulpieren, wenn er sich dessen Verschulden zurechnen lassen muss [...].
Untergetaucht ist der Ausländer nach dem Willen des Gesetzgebers, wenn er für die staatlichen Behörden nicht auffindbar ist. Ein Ausländer ist auch dann untergetaucht, wenn er sich zwar in der zugewiesenen Einrichtung, aber in einem anderen Zimmer aufgehalten hat, soweit er damit für die staatlichen Behörden in dieser Zeit nicht auffindbar und erreichbar war. Vorübergehende Abwesenheit genügt nicht für die Annahme eines Untertauchens, sie muss sich vielmehr über einen nicht unerheblichen Zeitraum erstrecken. Bei der Bestimmung des regelmäßig erforderlichen Mindestzeitraums ist eine Orientierung an § 66 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sachgerecht, wonach ein Ausländer zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben werden kann, wenn sein Aufenthaltsort unbekannt ist und er nicht innerhalb einer Woche in die Aufnahmeeinrichtung zurückgekehrt ist. Ist der Ausländer nicht mehr unter der dem Bundesamt angegebenen Adresse aufhältig, ist das Bundesamt nicht gehalten, aktiv langwierige Nachforschungen nach dem aktuellen Aufenthalt zu betreiben. Hat das Bundesamt hingegen anderweitig Kenntnis vom neuen Wohnort des Ausländers erlangt, kann nicht (mehr) von Unauffindbarkeit die Rede sein [...].
Die Vermutungswirkung des § 33 Abs. 2 S. 1 AsylG ist aber auch dann begründet, wenn der Betroffene im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung wieder aufgetaucht ist [...]. Dem Betroffenen bleibt dann lediglich die Möglichkeit, die gesetzliche Vermutung des Nichtbetreibens des Verfahrens nach Maßgabe des § 33 Abs. 2 S. 2 AsylG unverzüglich zu widerlegen. [...]
Legt die Mitteilung einer anderen Behörde ein Untertauchen nahe, ohne aber hinreichende Informationen über den tatsächlichen Sachverhalt, der Grundlage der Mitteilung ist, zu enthalten, ist das Bundesamt verpflichtet, sich diese zu beschaffen, wenn es nach § 33 Abs. 1 S. 1 AsylG vorgehen will [...].
Die Feststellung, der Antragsteller gelte als untergetaucht, beruht ausweislich der beigezogenen Verwaltungsakte des Bundesamtes allein auf der automatisch generierten Mitteilung des Ausländerzentralregisters, wonach die Ausländerbehörde des Landkreises ... am … 2024 die Eintragung eines Meldestatus veranlasst hat [...]. Diese weist als Nachrichteninhalt lediglich "Fortzug nach unbekannt" am … 2024 aus. Auf welcher Tatsachengrundlage die Mitteilung über den "Fortzug nach unbekannt" beruht, ist nicht erkennbar. So bleibt offen, ob der Antragsteller an seiner bis dato bekannten Wohnanschrift tatsächlich nicht mehr erreichbar gewesen ist, z.B. weil Postsendungen nicht zugestellt werden konnten, er es lediglich versäumt hat, seine Aufenthaltsgestattung rechtzeitig verlängern zu lassen oder er es lediglich versäumt hat, Veränderungen seines Aufenthaltsortes von kurzer Dauer den zuständigen Stellen mitzuteilen. In letztgenanntem Fall kann von einer Unerreichbarkeit für die staatlichen Behörden nicht ohne Weiteres ausgegangen werden. Die bloße Nutzung des Meldestandes im Ausländerzentralregister durch das Bundesamt reicht für die Annahme ausreichender eigener Feststellungen im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes nicht aus. [...]