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VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 05.06.2024 - 11 K 903/24.A - asyl.net: M32824
https://www.asyl.net/rsdb/m32824
Leitsatz:

Ipso facto-Flüchtlinge aus Gaza:

Personen, die in Gaza beim UNRWA registriert waren und von ihm unterstützt wurden, sind ipso facto Flüchtlinge. Die UNRWA kann in Gaza keinen Schutz mehr bieten.

Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Gaza-Streifen, ipso facto-Flüchtlinge, UNRWA, Palästinenser,
Normen: AsylG § 3 Abs. 3 S. 2, AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Den Klägern ist bereits aufgrund ihrer Registrierung bei der UNRWA im Gaza-Streifen ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil ihnen trotz des Schutzes durch die UNRWA im Falle einer Rückkehr kein Schutz gewährt wird und ihnen vielmehr als Folge der Entwicklung im Gaza seit dem 7. Oktober 2023 ein ernsthafter Schaden droht. Anspruchsgrundlage hierfür ist § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG, der an § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG anknüpft und mit diesem eine Einheit bildet. [...]

Das UNRWA fällt in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung [...]. Das Gericht hat, wie die Beteiligten, keine Zweifel daran, dass die Kläger bei der UNRWA registriert sind und in der Vergangenheit unterstützt wurden.

Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass den Klägern der Schutz oder Beistand nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG nicht mehr gewährt wird.

Einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft wird in diesem Sinne Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen, so dass er sich aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, dazu gezwungen sieht, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen [...]. Der Schutz oder Beistand fällt nicht nur dann weg, wenn die Organisation oder Institution, die ihn gewährt hat, entweder aufgelöst wird oder ihre Tätigkeit vollständig einstellt. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU ("aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt"). Vielmehr genügt es, dass der Schutz oder Beistand einer Person, nachdem sie diesen tatsächlich in Anspruch genommen hat, aus einem von ihr nicht zu kontrollierenden und von ihrem Willen unabhängigen Grund nicht länger gewährt wird. In zeitlicher Hinsicht ist für die Beurteilung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA nach diesen Maßstäben nicht länger gewährt wird, im Rahmen einer individuellen Beurteilung der relevanten Umstände nicht nur der Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem diese Person das UNRWA-Einsatzgebiet verlassen hat, sondern auch der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung [...].

Unabhängig davon, ob zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung überhaupt eine Einreise in den Gaza-Streifen möglich ist, droht den Klägern im Gaza-Streifen ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG. Damit wird ihnen dort kein Schutz gewährt. [...]

Im Gaza-Streifen kann die UNRWA zum für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt keinen Schutz gewähren. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde der Gaza-Streifen in den nachfolgenden Tagen, Wochen und Monaten Ziel zahlreicher Luftangriffe der israelischen Verteidigungsstreitkräfte, denen schrittweise eine Bodenoffensive folgen. Täglich in den Medien übermittelte Bilder und Videoaufnahmen belegen, dass es in diesem Teil Gazas zu großflächigen Zerstörungen gekommen ist, die relevante Infrastruktur (Stromversorgung, Behausung. Kommunikation, Wasserversorgung, Krankenhäuser etc.) ist zerstört oder nachhaltig beschädigt. Es handelt sich, einfach ausgedrückt, um ein Kriegsgebiet. Bei diesen Kämpfen wurden zahlreiche Zivilisten getötet oder verletzt, auch wenn mangels Überprüfbarkeit der Angaben der Konfliktparteien derzeit keine verlässlichen Zahlen dazu verfügbar sind. Nach nicht überprüfbaren Angaben des von der Hamas kontrollierten Ministry of Health in Gaza sollen durch die aktuellen Kampfhandlungen laut einer Veröffentlichung vom 3. Juni 2024 knapp 36.300 Menschen getötet und etwa 82.000 Menschen verletzt worden seien [...]. Angesichts der aktuellen Ereignisse ist davon auszugehen, dass sich im Gaza-Streifen die Gefahr, Kriegsopfer zu werden, innerhalb eines kurzen Zeitraums - auch innerhalb eines Jahres - realisieren kann [...]. Auch die humanitäre Situation ist derzeit und auf unabsehbare Zeit katastrophal. Im Gazastreifen sind konfliktbedingt aktuell mehr als 70.000 Wohneinheiten zerstört und mehr als 290.000 beschädigt. Die Bevölkerung ist komplett von Hilfslieferungen abhängig. [...]

Der Einzelrichter teilt auch nicht die Einschätzung des Bundesamtes zur (aus Sicht der Beklagten) derzeit fehlenden Spruchreife wegen der Volatilität der Lage im Gazastreifen. Daran ändert auch die Regelung des § 24 Abs. 5 AsylG nichts [...]. Wie dargelegt, ist nach den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht davon auszugehen, dass die Kampfhandlungen in absehbarer Zeit beendet werden. Der offene Konflikt dauert bereits seit fünf Monaten an und ist im Übrigen Teil einer seit Jahren immer wieder eskalationsanfälligen Spannungslage, die wiederholt zu Gewaltausbrüchen geführt hat. Prognostisch muss daher bis auf Weiteres von einer weiterhin erheblichen Gefährdung der Zivilbevölkerung ausgegangen werden. Unabhängig davon gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die katastrophale humanitäre und wirtschaftliche Lage in absehbarer Zeit substantiell verbessern wird, selbst wenn es zu einem Abflauen der offenen Kampfhandlungen kommen sollte. [...]