BlueSky

VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 04.09.2024 - 30 L 712/24 V - asyl.net: M32871
https://www.asyl.net/rsdb/m32871
Leitsatz:

Kindernachzug, wenn die Eltern ein nationales Visums besitzen

1. Der Besitz eines nationalen Visums und der Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sind für den Kindernachzug im Sinne des § 32 Abs. 1 AufenthG ausreichend, wenn der Zuzug gemeinsam erfolgen und die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet hergestellt werden soll und den Eltern angesichts des ihnen erteilten Visums im Bundesgebiet ein Aufenthaltstitel erteilt werden wird.

2. Von der Sicherung des Lebensunterhalts kann abgesehen werden, wenn die Antragstellenden minderjährig sind und die Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft geboten ist.

3. Es ist minderjährigen Antragstellenden nicht zuzumuten, dass nur ein Elternteil in das Bundesgebiet einreist. Eine andauernde Trennung der Familie ist (insbesondere bei Kleinkindern) mit dem Kindeswohl nicht zu vereinbaren.

(Leitsätze der Redaktion; a.A:OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.01.2025, OVG 3 S 3/25, VIS Berlin - OVG 3 S 3/25 | Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 3. Senat | Beschluss | Anspruch von Geschwisterkindern auf Erteilung eines Visums wegen Visumserteilung an die gemeinsamen ...

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, unbegleitete Minderjährige, Familienzusammenführung, Geschwisternachzug,
Normen: AufenthG § 32, AufenthG § 29 Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 36a
Auszüge:

[...]

Der Hauptantrag der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig und begründet. [....]

a) Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch auf Erteilung der begehrten Visa aus § 6 Abs. 3 AufenthG i. V. m. mit § 32 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG.

Danach ist den minderjährigen ledigen Kindern eines Ausländers unter anderem dann eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36a AufenthG besitzen.

Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall glaubhaft gemacht, auch wenn die Eltern der Antragsteller eine solche Aufenthaltserlaubnis derzeit noch nicht besitzen. Denn trotz der formalen Differenzierung zwischen Visum und Aufenthaltserlaubnis als unterschiedliche Formen eines Aufenthaltstitels (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) reicht in einem Fall wie dem hier vorliegenden der elterliche Besitz eines nationalen Visums bzw. der Anspruch darauf als "Aufenthaltserlaubnis" für den Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich aus, wenn der Zuzug gemeinsam erfolgen, die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet gelebt werden soll und den Eltern angesichts des ihnen erteilten Visums im Bundesgebiet ein in § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannter Aufenthaltstitel erteilt werden wird […].

Zwar ist unstreitig der Lebensunterhalt der Antragsteller im Bundesgebiet nicht gesichert.

Ein Ausnahmefall, der ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG rechtfertigt, ist aber zu bejahen, wenn besondere, atypische Umstände bestehen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 oder Art. 2 Abs. 1 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRCh eine Abweichung geboten ist. Die Feststellung eines derartigen-Ausnahmefalles beruht auf einer wertenden Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls. Es handelt sich nicht um eine Ermessensfrage, sondern um ein gerichtlich voll überprüfbares Tatbestandsmerkmal [...].

Gemessen daran kann die fehlende Sicherung des Lebensunterhaltes den allesamt noch minderjährigen Antragstellern im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1  EMRK nicht entgegengehalten werden. Die Visumerteilung ist hier mit hoher Wahrscheinlichkeit geboten, um die familiäre Gemeinschaft der minderjährigen Antragsteller mit ihren Eltern als Kernfamilie aufrechtzuerhalten, denn die Antragsgegnerin hat beiden Eltern der Antragsteller ein Visum nach § 36a Abs. 1 Satz 2 AufenthG zum Nachzug zu dem bereits im Bundesgebiet lebenden Bruder der Antragsteller erteilt. Die Lebensgemeinschaft der minderjährigen Antragsteller mit ihren Eltern kann infolge des dem Bruder zuerkannten internationalen Schutzes grundsätzlich nur im Bundesgebiet geführt werden. Eine auch nur vorübergehende Trennung der minderjährigen Antragsteller von ihren Eltern kommt im Hinblick auf das Alter der Antragsteller - sie sind derzeit 17, 14, 13, 11, 10, 7 und 2 Jahre alt - nicht in Betracht. Eine solche Trennung wäre nicht mit dem Kindeswohl der Antragsteller vereinbar. Dies gilt umso mehr, als sich die Dauer einer Trennung der Antragsteller von ihren Eltern - etwa bis zu einer den Nachzug uneingeschränkt rechtfertigenden Zuerkennung internationalen Schutzes für die Eltern durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder bis die Eltern den Lebensunterhalt durch Einkünfte aus einer eigenen Erwerbstätigkeit sichern können - nicht sicher prognostizieren ließe. Es ist den Eltern der minderjährigen Antragsteller auch nicht zuzumuten, dass nur ein Elternteil in das Bundesgebiet einreist und der andere Elternteil bei den Antragstellern in Syrien verbleibt. Dies würde dazu führen, dass der Nachzugsanspruch des im Ausland verbleibenden Elternteils alsbald untergehen könnte und ein Nachzugsanspruch der Antragsteller in zeitlicher Hinsicht noch ungewisser wäre. Eine länger andauernde Aufspaltung der Kernfamilie wäre nicht mit dem Kindeswohl der minderjährigen Antragsteller vereinbar, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass es sich bei dem jüngsten Antragsteller noch um ein Kleinkind handelt, welches in besonderer Weise auf den familiären Kontakt zu seinen beiden Eltern angewiesen ist [...].

b) Die Antragsteller haben zudem einen Anordnungsgrund, also die besondere Dringlichkeit der Erteilung der Visa, glaubhaft gemacht.

Den Antragstellern würden durch das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache - VG 30 K 713/24 V - unzumutbare, irreparable Nachteile entstehen. In diesem Fall könnten sie nicht gemeinsam mit ihren Eltern - bzw. mit ihrer momentan noch in Syrien verbliebenen Mutter - in das Bundesgebiet einreisen. Das Visum ihrer Mutter ist nur noch bis in die erste Hälfte des September 2024 hinein gültig. Falls die Mutter der Antragsteller es nicht nutzt oder die minderjährigen Antragsteller nicht zeitnah mit der Mutter in das Bundesgebiet einreisen dürfen, konnte der Visumsanspruch der Antragsteller nach § 32 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG endgültig vereitelt werden.

Es erscheint auch als angemessen, die Antragsgegnerin - wie von den Antragstellern beantragt - im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zur Erteilung der streitgegenständlichen Visa bis zum Ablauf des 8. September 2024 zu verpflichten. Damit soll den Antragstellern ermöglicht werden, vor Ablauf der Visa ihrer Eltern zusammen mit ihrer Mutter in das Bundesgebiet einzureisen, die nach Angabe der Antragsteller nur bis zum Ablauf des 8. September 2024 gültig sind. [...]