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VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 18.11.2024 - 1 L 532/24.A - asyl.net: M32876
https://www.asyl.net/rsdb/m32876
Leitsatz:

Weiterhin systemische Mängel im griechischen Aufnahmesystem: 

1. Auch gesunden, arbeitsfähigen Männern, die in Griechenland anerkannt sind, droht weiterhin die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh, weil sie nicht imstande wären, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Ihnen droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit extreme materielle Not und das reale Risiko der Obdachlosigkeit. 

2. Rückkehrende anerkannt Schutzberechtigte können auch nicht auf informellen Wohnraum oder die Inanspruchnahme landsmännischer Netzwerke verwiesen werden. Bei realistischer Einschätzung muss davon ausgegangen werden, dass informelle Unterbringungsmöglichkeiten begrenzt, prekär, nicht hinreichend verlässlich und oft unzumutbar sind. Es fehlt häufig an einem Zugang zu Strom, Wasser oder Heizung. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Obdachlosigkeit, systemische Mängel, gesunde alleinstehende Männer
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Denn nach den der Kammer vorliegenden aktuellen Erkenntnissen ist es für in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte als hinreichend wahrscheinlich anzusehen, dass sie im Falle einer Rückkehr dort der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechte-Charta und Art. 3 EMRK ausgesetzt wären, weil sie nicht imstande wären, ihre elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") zu befriedigen [...].

Dies gilt nicht nur für Familien und besonders verletzliche Personen, sondern grundsätzlich auch für gesunde, arbeitsfähige Männer wie den Antragsteller. [...]

Dies ist hier der Fall. Nach Griechenland zurückkehrende Personen mit internationalem Schutzstatus werden dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit elementarste Bedürfnisse nicht befriedigen können. Sie werden voraussichtlich für längere Zeit nicht in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu erwirtschaften. Für sie besteht mangels staatlicher und sonstiger Hilfen das ernsthafte Risiko, in eine Situation extremer materieller Not zu geraten und insbesondere keinen Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft zu erhalten.

Der Antragsteller wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr nach Griechenland nicht über die finanziellen Mittel verfügen oder sie sich verschaffen können, die er benötigt, um seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen und sich mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen.

Für Personen mit internationalem Schutz besteht in Griechenland ein reales Risiko, unabhängig von ihrem Willen in eine Situation der Obdachlosigkeit zu geraten. [...]

Die Gefahr der Obdachlosigkeit zurückkehrender Schutzberechtigter lässt sich ferner nicht mit dem Argument verneinen, zurückkehrenden Schutzberechtigten stünden ungeachtet des Fehlens staatlicher Unterbringungsmöglichkeiten informelle Möglichkeiten der Unterkunftsfindung durch eigene Strukturen und durch Inanspruchnahme landsmännischer Vernetzung zur Verfügung. Auch wenn sich derartige informelle Möglichkeiten vereinzelt bieten können, muss bei realistischer Einschätzung davon ausgegangen werden, dass sie begrenzt, prekär und nicht hinreichend verlässlich sind. Die zur Hilfe bereiten Landsleute sind vielfach - etwa als Schutzsuchende - selbst von Unterstützungsleistungen abhängig. Informelle Unterkunftsmöglichkeiten sind wegen der dort herrschenden Zustände (überfüllte Wohnungen, verlassene Häuser ohne Zugang zu Strom und Wasser) zudem häufig unzumutbar. [...]

Die vorstehend beschriebenen Schwachstellen im staatlichen Versorgungssystem ergeben die Gefahr einer irreversiblen und schwerwiegenden Verletzung der Rechte des Antragstellers durch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, sodass sein Interesse an der Aussetzung der Abschiebungsandrohung das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. [...]