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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.09.2024 - 2 S 29/24 - asyl.net: M32893
https://www.asyl.net/rsdb/m32893
Leitsatz:

Duldung für pflegenden Bruder:

Für eine schützenswerte familiäre Lebensgemeinschaft kommt es nicht allein auf den Umfang, sondern auch auf die Art der Hilfeleistung an. Vorliegend wird auch die Intimpflege des Bruders erbracht, sodass der Wunsch, dass diese durch das familiäre Umfeld erbracht wird, verständlich und nachvollziehbar erscheint.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung, familiäre Beistandsgemeinschaft, familiäre Bindungen, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, § 60 Abs. 5, AufenthG § 25 Abs. 3
Auszüge:

[...]

2. Der Antragsteller hat auch - jedenfalls im Beschwerdeverfahren - glaubhaft gemacht, dass er einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG hat. Denn es ist bei summarischer Prüfung überwiegend wahrscheinlich, dass seine Abschiebung mit Blick auf die familiäre Lebensgemeinschaft mit seinem Bruder wegen Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK rechtlich unmöglich ist. [...]

Danach kann sich der Antragsteller bei summarischer Prüfung auf ein Abschiebungshindernis aus § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK berufen, weil sein Bruder auf Lebenshilfe angewiesen ist, die vom Antragsteller tatsächlich erbracht wird und nur in der Bundesrepublik Deutschland erbracht werden kann, weil dem Bruder des Antragstellers eine Rückkehr in sein Heimatland nicht zugemutet werden kann.

Nach dem vom Antragsteller eingereichten Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 11. August 2023 besteht bei dem schwerbehinderten Bruder des Antragstellers aufgrund von Einschränkungen bei der Mobilität, bei der Selbstversorgung, bei der Fortbewegung im außerhäuslichen Bereich sowie bei der Teilnähme an Aktivitäten ein "Pflegeaufwand" von "wenigstens 10 Stunden verteilt auf regelmäßig mindestens 2 Tage pro Woche". Die Gutachterin kommt in dem Gutachten zu der Einschätzung, dass der Bruder des Antragstellers diverse Tätigkeiten nur "unselbständig", "überwiegend unselbständig" bzw. "nicht selbständig" ausüben könne, er insoweit also der Hilfe bedürfe. Gründe, die hieran zweifeln ließen, sind nicht zu erkennen. [...]

Für die Richtigkeit der Angaben des Bruders zu den Hilfeleistungen des Antragstellers spricht vielmehr der vom Antragsteller eingereichte Bescheid des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten vom 9. August 2022, wonach dem Bruder des Antragstellers mit Blick auf die Sicherstellung des pflegerischen Bedarfs durch "Angehörige bzw. nahestehende ... Personen" Pflegegeld bewilligt worden ist. Denn in dem vorerwähnten Gutachten wird der Antragsteller insoweit als pflegende Person genannt.

Bei einer solchermaßen bereits in der Bundesrepublik Deutschland gelebten Lebensgemeinschaft [...]  teilt der Senat nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Schutzwürdigkeit der Hilfeleistung zu verneinen sei, weil der Antragsteller seinen Bruder "nicht täglich" pflege [...], seine familiäre Hilfeleistung bzw. der Bedarf des Bruders an Hilfestellung m.a.W. dem Umfang nach unzureichend sei. Zu Recht weist die Beschwerde darauf hin, dass es nicht allein darauf ankomme, ob die Pflege bzw. familiäre Lebenshilfe in einem bestimmten Umfang erbracht wird. Eine dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Lebensgemeinschaft lässt sich nämlich nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten des persönlichen Kontakts oder genauem Inhalt der einzelnen Hilfshandlungen bestimmen [...]. Vorliegend stehen auch Hilfestellungen im Bereich der Intimpflege in Rede, so dass der Wunsch des Bruders des Antragstellers, sich nicht professioneller Hilfe Dritter zu bedienen, sondern sich in familiärer Geborgenheit in die ihm vertraute persönliche Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, verständlich und nachvollziehbar erscheint und sich die Pflege durch den Antragsteller als engem Verwandten als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig erweist [...].

Davon schließlich, dass die Lebenshilfe nur in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden kann, ist mit Blick auf den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Juni 2022 (Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für das Heimatland) auszugehen. [...]