Flüchtlingszuerkennung für ehemaligen Mitarbeiter der Regierung:
1. Mitarbeiter der ehemaligen afghanischen Regierung bilden eine besonders gefährdete Personengruppe. Sie werden von den Taliban grundsätzlich verdächtigt, politische Gegner zu sein.
2. Legale Ausreisen aus Afghanistan können ein Indiz für ein fehlendes Verfolgungsinteresse sein. Allerdings ist unklar, welche Fahndungslisten die Taliban an den Grenzübergängen verwenden und ob ein Personenabgleich bei einer Grenzkontrolle immer möglich ist und erfolgt. Bei Berücksichtigung des unter den Taliban verbreiteten Analphabetismus ist anzunehmen, dass ein Personenabgleich mit den vorhandenen Fahndungslisten nicht durchweg erfolgt und eine legale Ausreise auch für gesuchte Personen möglich sein kann.
(Leitsätze der Redaktion)
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Der Kläger vermochte den Einzelrichter davon zu überzeugen, dass er aufgrund seiner Tätigkeit für die frühere Regierung von Afghanistan Gefahr läuft, im Falle der Rückkehr verfolgt zu werden. Als Mitarbeiter in einem früheren Ministerium gehört der Kläger zu einer besonders gefährdeten Personengruppe. Solche Personen werden von den Taliban grundsätzlich verdächtigt, politische Gegner zu sein. Hinzu kommt der in den Strukturen der Taliban immanente Rachegedanke für die im Laufe der Jahre vor der Machtübernahme erlittenen Schäden und Demütigungen. [...]
Die legale Ausreise des Klägers ergibt hier nichts anderes. Zwar sind legale Ausreisen typischerweise ein Anzeichen für die Annahme, der Ausreisende stehe nicht auf einer zentralen Fahndungsliste. Ob dies im Falle des Klägers der Fall ist, lässt sich anhand der vorliegenden Erkenntnismittel nicht feststellen. Es ist unklar, welche Fahndungslisten die Taliban an den Grenzübergängen verwenden, welche Überprüfungsschritte dort vorgenommen werden und was tatsächlich das Ziel von Kontrollen ist. Zumindest gibt es durchaus Berichte darüber, dass zahlreiche Kämpfer der Taliban des Lesens nicht oder nur sehr rudimentär mächtig sind, weshalb ein Vergleich zwischen den Personenangaben in einem Reisedokument und einer Liste nicht immer möglich ist. Eine Kontrolle durch geschultes Personal ist am ehesten noch am Flughafen Kabul anzunehmen. Dort ist aber nur eine Ausreisekontrolle erfolgt, deren Regeln nicht bekannt sind und die nicht den gleichen Anforderungen wie eine Einreisekontrolle unterliegen muss. Auch der Kläger vermochte auf Nachfrage nur den Ablauf der bei ihm vorgenommenen Kontrolle zu schildern. Gerade der wichtige Kern, ob bei einer Ausreise ein Abgleich mit einer (zentralen) Fahndungsliste erfolgte oder lediglich das Flugticket und das deutsche Visum kontrolliert wurde, bleibt offen. [...]
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Amnestieankündigungen der Taliban nach Eroberung von Kabul. Diese Erklärungen sind - wie sich aus den Lageberichten des Auswärtigen Amtes seitdem ergibt - nicht belastbar. Trotz dieser Ankündigungen sind zahlreiche Verfolgungen und Racheakte an ehemaligen Gegnern der Taliban bekannt geworden. Dem liegt zwar keine nachweisbare zentrale Steuerung der jetzigen Machthaber zugrunde, wie die Steuerung im Einzelnen funktioniert, ist aber nicht bekannt. Ein Risiko geht zumindest auch von einzelnen Untergruppen der Taliban aus, wobei aufgrund der Stammesstruktur - anders als das Bundesamt annimmt - durchaus Informationen über die frühere Tätigkeit in Kabul ländlich geprägte Provinzen erreichen können, letzteres sogar wahrscheinlicher ist als das Gegenteil. Dafür bedarf es keiner Mitteilung der Taliban-Strukturen in Kabul an die der Provinz. Es herrscht jedenfalls soweit solche Racheakte vorgenommen werden oder auch tatsächlicher oder vermeintlicher politischer Widerstand erstickt wird, eine Kultur der Straflosigkeit. Gegen solche Racheakte wird nicht vorgegangen, die handelnden Personen werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Mit anderen Worten: es fehlt an der Schutzwilligkeit der lokalen Taliban-Strukturen in solchen Fällen. [...]