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OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 10.01.2025 - 2 A 79/23 - asyl.net: M33013
https://www.asyl.net/rsdb/m33013
Leitsatz:

Keine Zulassung der Berufung wegen "Verwestlichung"

Es kann nur im Einzelfall entschieden werden, ob eine Person nach längerem Aufenthalt im westlichen Ausland bei Rückkehr nach Afghanistan von den Taliban als "verwestlicht" betrachtet werden würde und dadurch einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. 

(Leitsatz der Redaktion) 

Schlagwörter: Afghanistan, westlicher Lebensstil, Berufungszulassungsantrag, Verwestlichung, Grundsätzliche Bedeutung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Anhand der durch den Kläger formulierten Frage und des Vorbringens im Zulassungsverfahren ist nicht erkennbar, dass in einem Berufungsverfahren verallgemeinerungsfähige Aussagen mit grundsätzlicher Bedeutung getroffen werden könnten. So bleibt bereits unklar, wie seine Anforderung "über einen längeren Zeitraum [im westlichen Ausland gelebt]" für die Annahme der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung verallgemeinerungsfähig in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht definiert werden könnte. Darüber hinaus lässt sich schon dem Zulassungsvorbringen nicht (hinreichend substantiiert) entnehmen, dass jeder nach einem "längeren Zeitraum" aus dem westlichen Ausland nach Afghanistan zurückkehrende Flüchtling von den Taliban ohne Weiteres als "gottlos" eingestuft werden und ihm damit generell eine asylrelevante Verfolgung drohen würde. So gibt der Kläger selbst an, dass das Risiko, als "verwestlicht" angesehen zu werden, umso größer sei, je länger sich die Person außerhalb Afghanistans aufgehalten habe und je weiter sie entfernt gewesen sei. Ein entsprechender Automatismus ist darin gerade nicht zu sehen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von ihm zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 21.9.2021 -A 14 K 9391/17 - und den dort angegebenen Erkenntnismitteln. Anders als der Kläger meint, stellt auch dieses nicht allein (und allgemeingültig) auf den Aufenthalt des dortigen Klägers im westlichen Ausland ab, sondern begründet seine Annahme, diesem drohten bei einer Rückkehr nach Afghanistan unter dem Gesichtspunkt der "Verwestlichung" asylrelevante Verfolgungshandlungen, mit dem persönlichen Eindruck, den es in der mündlichen Verhandlung von ihm gewonnen habe. Es sei überzeugt, dass der dortige Kläger aufgrund seines Verhaltens, seiner Wertvorstellungen und politischen Überzeugungen, seiner Sozialisierung im Ganzen und seines Erscheinungsbildes nicht in der Lage sei, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan an die dortigen Lebensverhältnisse so anzupassen, dass er nicht in den Verdacht geraten würde, westliche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen übernommen zu haben und sich damit in Widerspruch zu den radikal-fanatischen religiösen Vorstellungen zu setzen, die das von den Taliban ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan kennzeichneten […]. Insoweit stellt das Gericht auf die "individuelle ... Lage des Klägers" [...] ab. Dies entspricht letztlich der Argumentation des Verwaltungsgerichts in der hier angegriffenen Entscheidung und findet eine Stütze in der überzeugenden obergerichtlichen Rechtsprechung, wonach – jedenfalls männlichen [...] - Rückkehren nicht allein deshalb Verfolgung durch die Taliban droht, weil sie aus Afghanistan ausgereist sind sowie längere Zeit im westlichen Ausland gelebt und dort einen Asylantrag gestellt haben; ausschlaggebend ist vielmehr das Vorliegen besonderer, individuell gefahrerhöhender Umstände [...]. Im Übrigen stammen die vom hiesigen Kläger und dem Verwaltungsgericht Freiburg - als Erkenntnismittel - in Bezug genommen Studien von Friederike Stahlmann sowie die Länderanalyse und das Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 26.3.2021 aus der Zeit vor der Machtübernahme durch die Taliban (zum 15.8.2021) und sind insofern von vorne herein nur eingeschränkt geeignet, um die erforderliche Wahrscheinlichkeit einer generellen Verfolgung aller Rückkehrer aus dem westlichen Ausland unter dem Taliban-Regime zu belegen.

Für den Fall, dass - wie vorliegend - keine Gruppenverfolgung angenommen werden kann, sind die rechtlichen Maßstäbe, wann von einer begründeten Furcht vor Verfolgung auszugehen ist, in der Rechtsprechung geklärt. Danach kann die Frage, welche Auswirkungen bestimmte Aktivitäten einer Person haben und ob sie deshalb einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist, nur unter Würdigung der Einzelfallumstände des konkreten Falles beantwortet werden. Insofern liefe eine Beantwortung auf eine (unzulässige) Überprüfung der Rechtsanwendung und der einzelfallbezogenen ausführlichen Feststellungen und Würdigungen durch das Verwaltungsgericht hinaus [...]. Angesichts dessen ist die durch den Kläger aufgeworfene Fragestellung jedenfalls nicht "grundsätzlich" im Sinne von fallübergreifend von Bedeutung und kann eine Berufungszulassung nicht rechtfertigen. [...]