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VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 14.01.2025 - 13 A 3659/20 - asyl.net: M33107
https://www.asyl.net/rsdb/m33107
Leitsatz:

Keine fairen, rechtsstaatlichen Verfahren in der Türkei bei Terrorismusvorwurf: 

1. Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit hat es in den letzten Jahren in der Türkei erhebliche Rückschritte gegeben. Die Unabhängigkeit der Rechtsprechungsorgane ist durch eine stärkere Kontrolle durch den Justizminister deutlich eingeschränkt worden. In Strafverfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug kann nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden.

2. Bei Vorwürfen der Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ist davon auszugehen, dass bei einer Rückkehr in die Türkei eine Verhaftung droht. 

(Leitsätze der Redaktion)

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, unfaire Verfahren, Politmalus, HDP, Terrorverdacht, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3b Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen vor. [...]

Der Kläger kann im Falle einer Rückkehr in die Türkei angesichts der aktuellen Verhältnisse nicht mit einem fairen rechtsstaatlichen Strafverfahren rechnen, in dem es ihm gelingen könnte, im Berufungsverfahren die Vorwürfe wegen des "Verstoßes gegen das Vereinsgesetz", "Hilfe für eine bewaffnete Terrororganisation" sowie "Propaganda für eine Terrororganisation" zu entkräften. Der Kläger hatte bereits im Verwaltungsverfahren verschiedene Dokumente der türkischen Ermittlungsbehörden vorgelegt, die in der mündlichen Verhandlung über UYAP auch unmittelbar als dort "vorhanden" geprüft werden konnten. Zudem zeigte seine Einwahl in UYAP im Rahmen der mündlichen Verhandlung, dass der Tatvorwurf im Rahmen des Berufungsverfahrens unter dem Az. ... bei dem 2. Regionalen Oberstrafgericht Erzurum seitens der Oberstaatsanwaltschaft noch verschärft wurde und dem Kläger nunmehr auch die "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" vorgeworfen wird. Das Gericht hat nach dem Eindruck aus der mündlichen Verhandlung keinen Zweifel daran, dass sich der Kläger in der Türkei mit entsprechenden Tatvorwürfen konfrontiert sieht.

Der Kläger muss insoweit ernsthaft befürchten, dass er willkürlichen Maßnahmen und Gewalthandlungen türkischer Sicherheitskräfte ausgesetzt ist, denen er hilflos ausgeliefert wäre; zudem kann er in keiner Weise ein faires Verfahren gegen ihn erwarten. Von Seiten des Europarates und der Europäischen Union wurden der Türkei in den letzten Jahren regelmäßig Rückschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit attestiert. Die Notstandsdekrete und Gesetzgebungstätigkeit der Regierung im Zuge der Auseinandersetzung mit der Gülen-Bewegung im Nachgang des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 haben dazu geführt, dass die Unabhängigkeit der Justiz weiter erheblich eingeschränkt wurde. Die Massenentlassungen innerhalb der Justiz haben dort zu Kapazitätsengpässen geführt. In großem Umfang wurden erfahrene Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal ersetzt, was die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren einschränkt. Zudem ist davon auszugehen, dass sich der auf die Justiz ausgeübte politische Druck seit dem Putschversuch deutlich verstärkt hat. Die Unabhängigkeit der Justiz ist in der Verfassung verankert (Art. 138). Für Entscheidungen u.a. über Verwarnungen, Versetzungen oder den Verbleib im Beruf ist der Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK, vorher Hoher Rat HSYK) unter dem Vorsitz des Justizministers zuständig. Bereits durch ein am 15. Februar 2014 verabschiedetes Reformgesetz war der HSYK einer stärkeren Kontrolle des Justizministers unterstellt und damit in seiner Unabhängigkeit deutlich eingeschränkt worden. Ein nicht unerheblicher Teil des Justiz-Personals (insgesamt 14.993) wurde in den letzten Jahren ausgetauscht. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden 4.166 Richter und Staatsanwälte entlassen. Seitdem kann in politischen Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der PKK (dies gilt auch für den "Ableger" YPS), DHKP-C und Gülen-Bewegung (im offiziellen türkischen Sprachgebrauch "FETÖ") nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden. Nichts anderes kann gelten für Verfahren, welche - wie vorliegend - den Vorwurf der Terrorpropaganda oder die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation betreffen. Neben den Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten wurden einzelne Richter nach kontroversen Entscheidungen suspendiert oder (straf-)versetzt, woraufhin andere Richter gegen die gleichen Angeklagten zum "richtigen" Ergebnis kamen [...].

Auch wenn das türkische Recht die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren sichert, so sind, anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität, in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet Insbesondere werden solche Fälle häufig als geheim eingestuft mit der Folge, dass bis zur Anklageerhebung eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen nicht möglich ist (vgl. Lagebericht S. 15). Hinzu kommen Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte, die wegen PKK- oder "FETÖ"-Verdachts Angeklagten beistanden und teils deswegen selbst verhaftet wurden. Angeklagte in diesen Verfahren wegen "Terrorismus"-Verdachts haben Schwierigkeiten, überhaupt noch vertretungsbereite Rechtsanwälte zu finden [...].

Bei dem hier vorliegenden Vorwurf der Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung handelt es sich um Vorwürfe, die schwerwiegend erscheinen und der bei den Ermittlungsbehörden ein besonderes Interesse hinsichtlich des Klägers hervorrufen dürfte. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle der Einreise in die Türkei auch verhaftet werden würde. [...]