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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, vom 28.02.2025 - 24 K 104/23 A - asyl.net: M33191
https://www.asyl.net/rsdb/m33191
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für afghanische Frau: 

Afghanische Frauen haben bereits aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit und ihres Geschlechts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan Verfolgung durch die Taliban zu befürchten.

(Leitsatz der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 04.10.2024 - C-608/22, C-609/22 - AH und FN gg. Österreich - asyl.net: M32737, siehe auch VG Berlin, Urteil vom 21.03.2025 – 24 K 67/23 A – asyl.net: M33209)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Taliban,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

27 Gemessen an diesen Grundsätzen droht der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan als Frau geschlechtsspezifische Verfolgung. Das Gericht geht der Erkenntnislage folgend davon aus, dass Frauen in Afghanistan aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen ihres Geschlechts droht [...].

28 Bei seiner Würdigung geht das Gericht von folgender Erkenntnislage zum Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen aus:

29 Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes werden die Rechte von Frauen in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban zunehmend und systematisch missachtet. Insbesondere seit Jahresbeginn 2022 nehmen Dekrete zu Kleidungsvorschriften, Geschlechtertrennung und Bewegungseinschränkungen für Frauen zu. Im Lichte der systemischen und systematischen Diskriminierung von Frauen und Mädchen durch die Taliban, durch die die Hälfte der Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan verdrängt wird, muss man von einer der schwerwiegendsten Situationen weltweit mit Blick auf die Rechte von Frauen und Mädchen sprechen [...]. Dekrete des De-facto-"Tugendministeriums" und weiterer Behörden auf nationaler und Provinzebene zu Kleidungsvorschriften, Geschlechtertrennung und Bewegungseinschränkungen stellen massive Menschenrechtsverstöße dar. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Anordnung der Verschleierungspflicht am 7. Mai 2022. Frauen, die solchen Anordnungen zuwiderhandeln, müssen mit Bestrafung, auch durch Körperstrafen, rechnen. Auch die Bewegungsfreiheit von Frauen ist massiv eingeschränkt. Bereits am 26. Dezember 2021 wurde die Beförderung von allein reisenden Frauen über einen Radius von 72 Kilometern von ihrem Wohnort hinaus per Dekret verboten. Seit dem 25. März 2022 dürfen Frauen laut Medienberichten Flugreisen innerhalb Afghanistans oder ins Ausland nur mit einem sogenannten "Mahram", einer männlichen Begleitperson, antreten. Mitarbeiter des De-facto-"Tugendministeriums" zeigen im öffentlichen Raum zunehmend Präsenz und kontrollieren die Einhaltung der Bekleidungspflichten und der Vorschriften zur Bewegungseinschränkung. Neben verbalen Anfeindungen soll es auch zu körperlichen Übergriffen gekommen sein. Die Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen wurden ebenfalls stark eingeschränkt. In vielen Bereichen wurden Frauen gekündigt oder ihnen wurde die Kündigung nahegelegt. Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) soll die Erwerbstätigkeit von Frauen seit der Machtübernahme der Taliban um 25 Prozent zurückgegangen sein. Am 23. Dezember 2022 hat das De-facto-Hochschulministerium Frauen den Zugang zu öffentlichen und privaten Universitäten verboten. Aktuell sind Sekundarschulen für Mädchen in nur sechs von 34 Provinzen teilweise geöffnet, die Mehrheit der schulpflichtigen Mädchen ist damit vom Zugang zu Sekundarschulen ausgeschlossen [...].

30 Dies deckt sich weitgehend mit der Einschätzung der Europäischen Asylbehörde (EUAA). Demnach müssen Frauen in Afghanistan eine weitreichende und systematische Verletzung ihrer Menschenrechte hinnehmen. Die EUAA spricht in diesem Zusammenhang auch von "Geschlechter-Apartheid" (EUAA, Country Guidance: Afghanistan, Common Analysis and Guidance Note, Mai 2024, S. 71). Laut EUAA gibt es zahlreiche dokumentierte Fälle, in denen Frauen an Checkpoints wegen Verstößen gegen Bekleidungsvorschriften Opfer von Übergriffen wurden [...]. Generell ist Afghanistan eines der Länder mit der höchsten Gewaltrate gegen Frauen weltweit. Unter der Herrschaft der Taliban haben Frauen gegen diese zunehmende Gewalt keinerlei institutionelle und rechtliche Schutzmöglichkeit mehr. Auch die Zahl von Zwangsverheiratungen steigt. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan UNAMA hat zwischen März 2022 und August 2023 mindestens 324 Fälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchen dokumentiert [...]. Dementsprechend kommt die Europäische Asylbehörde in ihrer Risikoanalyse zu dem Ergebnis, dass für Frauen und Mädchen in Afghanistan allgemein eine begründete Furcht vor Verfolgung angenommen werden muss [...].

31 Die Einzelrichterin teilt diese Einschätzung, die im Übrigen auch in der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Bestätigung findet (EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2024 – C-608/22 – juris). Der EuGH hat auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs Österreich entschieden, dass die diskriminierenden Maßnahmen gegen Frauen unter der Herrschaft der Taliban, die den Zugang zur Gesundheitsfürsorge, zum politischen Leben und zur Bildung sowie die Ausübung einer beruflichen oder sportlichen Tätigkeit einschränken, die Bewegungsfreiheit behindern und die Freiheit, sich zu kleiden, beeinträchtigen, jedenfalls in ihrer Gesamtheit Frauen in einer Weise beeinträchtigen, dass sie den Schweregrad erreichen, der erforderlich ist, um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung darzustellen [...]. Der EuGH hat weiterhin festgestellt, dass es angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan derzeit nicht erforderlich ist, bei der individuellen Prüfung des Antrags einer aus Afghanistan stammenden Frau auf internationalen Schutz andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen [...]. Vor diesem Hintergrund kommt es auf die im bisherigen Verfahren aufgeworfenen Fragen, ob die Klägerin persönlich bereits Verfolgung erfahren hat bzw. ob sie in einem besonderen Maße in ihrer Lebensweise "verwestlicht" ist, nicht weiter an. [...]