Weiterwanderung ukrainischer Staatsangehöriger innerhalb der EU möglich:
"1. Ein ukrainischer Staatsangehöriger, der Vertriebener im Sinne von Art. 1 und 2c) der Richtlinie 2001/55/EG (Massenzustrom-RL) ist, verliert nicht die Vertriebeneneigenschaft, wenn er sich nach Verlassen der Ukraine zunächst für einen längeren Zeitraum in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union aufgehalten hat und sich dann entschließt in das Bundesgebiet einzureisen.
2. Weder der Aufenthalt noch die vorläufige Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft steht einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG entgegen.
3. Insbesondere enthalten weder die Richtlinie 2001/55/EG noch die Durchführungsbeschlüsse (EU) 2022/382, (EU) 2023/2409 und (EU) 2024/1836 Regelungen, die eine Weiterwanderung vorläufig Schutzberechtigter verbietet."
(Amtliche Leitsätze)
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Der Status des Antragstellers als Vertriebener entfällt – entgegen der Auffassung des Antragsgegners – auch nicht deswegen, weil sich der Antragsteller für einen Zeitraum von etwa einem Jahr und sieben Monaten in Polen aufgehalten hat. Die Vertriebeneneigenschaft endet nicht damit, dass Polen einen sicheren Aufenthaltsort für den Antragsteller darstellt, in dem sich dieser nach Verlassen der Ukraine aufgehalten hat. Die Vertriebeneneigenschaft bezieht sich nämlich auf den Herkunftsstaat, den der betroffene Ausländer hat verlassen müssen bzw. von wo er evakuiert worden ist und in den er nicht sicher und dauerhaft wieder zurückkehren kann.
Dem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG stehen auch keine anderen Rechtsvorschriften entgegen. Eine Regelung, die eine Weiterwanderung innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbietet, ist weder in den Regelungen der Massenzustrom-Richtlinie noch in den hierzu ergangenen Durchführungsbeschlüssen (EU) 2022/382 vom 4. März 2022, (EU) 2023/2409 vom 19. Oktober 2023 und (EU) 2024/1836 vom 25. Juni 2024 enthalten. Insbesondere hindert eine in einem anderen Mitgliedstaat erfolgte vorläufige Schutzgewährung und die aufgrund dessen erfolgte Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht die erneute Stellung eines Antrags auf vorläufige Schutzgewährung in einem weiteren Mitgliedstaat.
Art. 2 Abs. 1 Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 ist nicht im dem Sinne auszulegen, dass dieser eine Weiterwanderung eines Schutzsuchenden verbietet, wenn ein Schutzsuchender aus der Ukraine bereits in einem anderen Mitgliedstaat Sicherheit vor dem Kriegsgeschehen in der Ukraine gefunden hat. In dessen Absatz 1 werden die Gruppen von Personen benannt, für die der Beschluss gilt. Absätze 2, 3 und 4 sehen Möglichkeiten vor, wonach Mitgliedstaaten weiteren Personen Schutz gewähren können.
Anders als Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. § 26 a Abs. 1 Satz 1 AsylG, wonach sich nicht auf Asyl berufen kann, wer aus einem sicheren Drittstaat in das Bundesgebiet einreist, ist in der Massenzustrom-RL und dem dazu ergangenen Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 gerade keine derartige Regelung enthalten. Auch der Verweis auf die Dublin-III-Verordnung ist insoweit unerheblich. Darin ist in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich geregelt, dass der Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Auch eine derartige Regelung findet sich im Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 nicht. Vielmehr ist in dem Erwägungsgrund 16 Gegenteiliges ausgeführt. Danach haben ukrainische Staatsangehörige als von der Visumpflicht befreite Reisende das Recht, sich innerhalb der Union frei zu bewegen, nachdem ihnen die Einreise in deren Gebiet für einen Zeitraum von 90 Tagen gestattet wurde. Auf dieser Grundlage können sie den Mitgliedstaat wählen, in dem sie die mit dem vorübergehenden Schutz verbundenen Rechte in Anspruch nehmen wollen, und ihrer Familie und ihren Freunden in den derzeit in der Union bestehenden beachtlichen Diaspora-Netzwerken nachziehen.
Dementsprechend sehen die Hinweise des Bundesministeriums des Innern und für Heimat in der Fassung vom 30. Mai 2024 zur Umsetzung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 unter Ziffer 8.7 vor, dass aus der Ukraine Geflüchtete den Mitgliedstaat wählen können, in dem sie die mit dem vorübergehenden Schutz verbundenen Rechte in Anspruch nehmen wollen. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels dürfe deshalb nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass ein Betroffener bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen entsprechenden Titel erhalten hat.
Dem steht auch nicht Art. 26 Massenzustrom-RL entgegen. Dieser sieht die Kooperation der Mitgliedstaaten vor und regelt in dessen Absatz 1, dass die Mitgliedstaaten bei der Verlegung des Wohnsitzes von einem Mitgliedstaat in einen anderen von Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, zusammenarbeiten, wobei die betreffenden Personen einer Verlegung zugestimmt haben müssen. Hierbei handelt es sich nicht um eine vom Ausländer selbst veranlasste Weiterwanderung in einen anderen Mitgliedstaat, sondern um eine Maßnahme auf Veranlassung des Mitgliedstaats, der vorübergehenden Schutz gewährt hat. [...]