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VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 23.04.2025 - 1 K 1053/22.A - asyl.net: M33286
https://www.asyl.net/rsdb/m33286
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für syrische Christin: 

1. Für eine syrische Christin aus dem Bezirk Damaskus besteht im Einzelfall (hier: Entführung, Belästigungen und Drohungen durch Extremisten und syrische Streitkräfte) die begründete Gefahr einer Verfolgung aufgrund der Religionszugehörigkeit.

2. Durch den Machtwechsel in Syrien hat sich die Bedrohungslage weiter verfestigt. Eine Schutzbereitschaft der neuen Machthaber lässt sich nicht feststellen.

3. Eine inländische Fluchtalternative ist aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage und der besonderen Vulnerabilität der Antragstellerin nicht zumutbar. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Zweitantrag, Christen, Frauen, Syrien, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3e
Auszüge:

[...]

Die Klägerin gehört zu einem Familienverbund christlicher Syrerinnen (Mutter und zwei volljährige Töchter) [...].

Ausgehend von diesen Maßstäben ist das Gericht überzeugt, dass der hier konkret betroffenen Klägerin bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung in Anknüpfung an ihre christliche Religionszugehörigkeit droht.

Zwar geht das Gericht nicht davon aus, dass Christen bzw. Christinnen oder (alleinstehenden) Frauen allgemein in Syrien eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Vielmehr hängt dies von weiteren Umständen ab, insbesondere den im jeweiligen Gebiet aktiven Gruppierungen, dem Vorhandensein schutzbereiter (männlicher) Angehöriger oder weiteren eine Gefahr reduzierende bzw. erhöhende Umstände. [...]

Für die hier konkret betroffene Klägerin ist unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls aber eine begründete Furcht vor Verfolgung (z.B. Entführungen, erhebliche körperliche Übergriffe) aufgrund der Religionszugehörigkeit anzunehmen. Dabei ist hinsichtlich der Herkunftsregion auf den ursprünglichen Wohnort der Klägerin im Bezirk Damaskus abzustellen. Zwar haben die Klägerin und ihre Angehörigen nach dem Verlassen der Herkunftsregion noch einige Monate im Bezirk Aleppo gelebt. Dies diente nach den glaubhaften Angaben des Familienverbunds aber lediglich der Flucht und der Zwischenaufenthalt war nur dem Umstand geschuldet, dass eine Ausreise organisiert werden musste. Eine "neue" Herkunftsregion begründet dies nicht.

Zu Gunsten der Klägerin ist im Ausgangspunkt zu berücksichtigen, dass sie sich auf die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU berufen kann. [...] 

Die Klägerin hat glaubhaft sowohl in ihrem Asylverfahren in Griechenland [...] als auch in ihrem Asylverfahren in der Bundesrepublik erklärt, dass sie ihre Herkunftsregion aufgrund einer auf die Religion bezogenen flüchtlingsrelevanten Verfolgung verlassen musste. Dass die Bedrohungen der Klägerin und ihrer Angehörigen, die u.a. die Anwendung erheblicher Gewalt beinhalteten, in dem für § 3 Abs. 2 AsylG erforderlichen Zusammenhang mit der christlichen Religionszugehörigkeit stand, ergibt sich jedenfalls aus dem vorgelegten Drohschreiben, das das Gericht aufgrund der glaubhaften Angaben der Klägerin und ihrer Angehörigen als echt bewertet. [...] Die Klägerin und ihre Angehörigen haben im gerichtlichen Verfahren zur Überzeugung des Gerichts auch nachvollziehbar dargelegt, dass sich diese Bedrohungslage durch den jüngsten Machtwechsel in Syrien nicht verbessert hat oder entfallen ist, sondern im konkreten Einzelfall vielmehr eine Verfestigung festzustellen ist. Stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung liegen nicht vor. Vielmehr sprechen die Umstände des konkreten Einzelfalls für eine erneute flüchtlingsrelevante Verfolgung. Hinsichtlich der Klägerin und ihren Angehörigen liegen erhebliche gefahrerhöhende Umstände vor. So ist neben der Zugehörigkeit zur christlichen Minderheit zu berücksichtigen, dass die Klägerin und ihre Angehörigen nach den glaubhaften Angaben in Syrien weder über ein Netzwerk noch über einen Familienverbund verfügen und auch keine schutzbereiten (männlichen) Angehörigen vor Ort haben. Erschwerend kommt hinzu, dass auch der weibliche Haushaltsvorstand - die Klägerin im vorliegenden Verfahren - aufgrund ihrer erheblichen gesundheitlichen (psychischen) Einschränkungen kaum zu einem Schutz der Familie in der Lage ist; dies hat auch der Eindruck aus der mündlichen Verhandlung bestätigt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Herkunftsregion der Klägerin - im Gegensatz zu anderen Teilen Syriens - nach den Feststellungen im Gerichtsverfahren, insbesondere den glaubhaften Angaben der Klägerin und ihrer Angehörigen, nicht (mehr) von einer größeren christlichen Community geprägt ist, dessen Schutz sich die neuen Machthaber zur Wahrung (des Anscheins) einer gemäßigten Regierung, annehmen müssten, zumal die Erkenntnismittel zeigen, dass Extremisten durch den Machtwechsel Einfluss auf die konkret betroffene Region erlangt haben.

Die vom Bundesamt vorgebrachten Erwägungen, insbesondere die Begründung des Bescheids, gibt hier keinen Anlass für eine andere Bewertung. Soweit beispielsweise darauf verwiesen wird, dass nur die älteste Tochter entführt worden sei, ändert dies nichts daran, dass sich die Drohungen (weiterer) erheblicher Handlungen gegen die Klägerin und ihre Angehörigen gerichtet haben und jedenfalls bei einer Rückkehr zu erwarten ist, dass sie (erneut) in das Visier der Extremisten geraten. Dass der Familie vor ihrer Ausreise in Syrien in diesem Sinne nichts mehr geschehen ist, lässt sich nachvollziehbar anhand der glaubhaften Angaben der Klägerin und ihrer Angehörigen damit erklären, dass sie sich versteckt und nicht mehr im Herkunftsgebiet aufgehalten haben. Soweit auf das Assad-Regime als Beschützer verwiesen wird, ist dieser Aspekt durch den Machtwechsel zum hier maßgeblichen Zeitpunkt jedenfalls überholt. Auch im Übrigen liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Dass die neuen Machthaber bereit bzw. in der Lage wären, die hier konkret betroffene Klägerin wirksam zu schützen (§ 3d AsylG), lässt sich aus den Erkenntnismittel zum hier maßgeblichen Zeitpunkt nicht feststellen. Auf einen internen Schutz nach § 3e AsylG kann die Klägerin schon deswegen nicht verwiesen werden, da von ihr jedenfalls aus wirtschaftlichen Gründen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in einem anderen Landesteil Syriens (z.B. dem kurdisch kontrollierten multireligiösen Qamischli) niederzulassen. So zeigen die Erkenntnismittel, dass die wirtschaftliche Lage in Syrien aufgrund jahrelanger Misswirtschaft, Bürgerkrieg und Korruption sowie aufgrund der jüngeren Ereignisse angespannt ist. Hinzu kommt für die Klägerin als alleinstehende Frau im konkreten Einzelfall noch das Fehlen beruflicher Qualifikationen, eine stark eingeschränkte Erwerbsfähigkeit und das Fehlen eines (familiären) Netzwerks [...]. Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG sind nicht ersichtlich. [...]