Ablehnung als offensichtlich unbegründet bei mutwilliger Vernichtung eine Reisepasses:
1. Die Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG erfordert eine Kausalität zwischen mutwilliger Vernichtung des Identitäts- oder Reisedokuments und der Unmöglichkeit der Identitätsfeststellung.
2. Mutwilligkeit erfordert die Absicht, die Durchführung des Verfahrens und/oder die Rückführung durch ein Verschleiern der Identität oder der Staatsangehörigkeit zu erschweren.
3. Die Vernichtung oder Beseitigung von Identitätspapieren hat keine Auswirkungen auf das Asylverfahren, wenn keine Zweifel an der Identität und Staatsangehörigkeit bestehen.
4. Der Umstand, dass die Vernichtung des Reisepasses auch die Abschiebung erschwert, ist bei der Entscheidung über den Asylantrag nicht zu Lasten der Antragstellenden zu berücksichtigen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Es bestehen ernstliche Zweifel daran, dass hier die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als offensichtlich unbegründet und damit für eine Abschiebungsandrohung unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche vorliegen. Das Bundesamt hat unter Berufung auf § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG die Anträge auf Asyl- und Flüchtlingsanerkennung sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Diese Offensichtlichkeitsentscheidung begegnet ernstlichen Zweifeln.
aa) Gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG 2024 ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, mutwillig vernichtet beziehungsweise beseitigt hat oder die Umstände offensichtlich diese Annahme rechtfertigen.
Der neue § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG 2024 wird so verstanden, dass auf vier Voraussetzungen einzugehen ist, nämlich (1.) die Vernichtung eines tauglichen Dokuments, (2.) die Unmöglichkeit der Identitätsfeststellung, (3.) die Kausalität der Vernichtung für diese Unmöglichkeit, was aus dem Wortlaut "ermöglicht hätte" zu folgern ist, und (4.) die Mutwilligkeit der Vernichtung. Das Merkmal der Mutwilligkeit umfasst nicht jede bewusste Vernichtung, sondern beinhaltet die Absicht, die Durchführung des Verfahrens und/oder eine Rückführung durch ein Verschleiern der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit zu erschweren [...]. Die Voraussetzungen von § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG liegen dann nicht vor, wenn an der Identität und Staatsangehörigkeit des Antragstellers keine Zweifel bestehen [...]
(1) Für dieses (enge) Verständnis von 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift, der fordert, dass das vernichtete oder beseitigte Dokument die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit des Ausländers "ermöglicht hätte". Diese Formulierung ist nicht dahingehend zu verstehen, dass die Norm von der "abstrakten Eignung" des Identitäts- oder Reisedokuments zur Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit ausgeht und einen "hypothetischen Beitrag zur Feststellung" ausreichen lässt [...]. Vielmehr legt die Formulierung nahe, dass diese Feststellung ohne das Dokument nicht (sicher) möglich ist. [...]. § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG setzt eine Fallgestaltung voraus, in der zumindest Zweifel an der Identität oder Staatsangehörigkeit bestehen, eine Feststellung aber mit Hilfe der vernichteten oder beseitigten Dokumente (hypothetisch) möglich gewesen wäre, das Dokument also im Einzelfall tatsächlich eine zum Tragen kommende Bedeutung für die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit gehabt hätte [...]. Bestehen keine Zweifel an Identität und Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden, hat sich die Vernichtung oder Beseitigung des Personaldokuments auf deren Feststellung nicht ausgewirkt. Das Asylverfahren kann in diesem Fall ohne Hindernisse mit einer regelhaften Begründetheitsprüfung durchgeführt werden [...].
Auch aus dem Wortlaut der Neufassung "mutwillig" wird deutlich, dass nicht jede Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments zu einer Qualifizierung der Ablehnung eines unbegründeten Asylantrags als offensichtlich unbegründet führen soll, sondern allein eine solche, die im Ergebnis die sichere Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden verhindert hat. Denn Mutwilligkeit liegt nur bei einem vorsätzlichen oder absichtlichen Handeln mit dem konkreten Zweck der Verschleierung vor, um die Feststellung der Identität oder auch eine Abschiebung zu verhindern oder zu erschweren [...].
(2) Auch die Gesetzesbegründung deutet auf eine solche Auslegung hin. Danach wollte der Gesetzgeber durch § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG "die nach bisheriger Rechtslage in § 30 Absatz 1 Nummer 2 und 5 geregelten Fälle der Täuschung über die Identität oder Staatsangehörigkeit" erfassen [...]. Eine Täuschung setzt aber das Hervorrufen oder Unterhalten eines Irrtums voraus, der im Falle der anderweitigen (gleichzeitigen und sicheren) Feststellung von Identität und Staatsangehörigkeit nicht besteht [...]. Ausweislich der Gesetzesbegründung [...] sollte allein die fehlende Möglichkeit zur Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit mit § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG sanktioniert werden - was insoweit auch Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 lit. d der RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) entspricht -, nicht aber die fehlende Möglichkeit sonstiger Feststellungen, die mit dem vernichteten Dokument darüber hinaus hätten belegt werden können [...]. Insofern ist hier nicht zu berücksichtigen, welchen Nutzen das Dokument, das der Antragsteller vernichtet und dessen Nutzung er vereitelt hat, im weiteren Verfahren noch hätte haben. Dass der Reisepass - neben einer etwaigen Identifizierung des Betroffenen - auch die Möglichkeit der Abschiebung im Falle der Ablehnung des Asylantrages sichert, worauf die Antragsgegnerin in dem angefochtenen Bescheid verweist, ist kein Gesichtspunkt, der im vorliegenden Zusammenhang zu Lasten des Antragstellers berücksichtigt werden könnte. Er findet in der Gesetzesbegründung keine Stütze.
(3) Letztlich erscheint eine Offensichtlichkeitsentscheidung auch vor dem Hintergrund des Gcsetzeszwecks unangemessen, wenn der Asylantragsteller auf andere Weise seine Identität und Staatsangehörigkeit nachweist. § 30 AsylG dient dazu, "eine unberechtigte Berufung auf das Asylrecht zu verhindern" [...], was solche Fälle betreffen soll, in denen dem Betroffenen eine mangelnde Mitwirkung bzw. missbräuchliche Antragstellung zu Last gelegt werden kann, ein Vorwurf, der in Fällen wie dem vorliegenden nicht zu machen ist. [...]