Kein staatlicher Schutz für Frauen in der Türkei:
"1. Nach der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblichen Erkenntnislage ist der türkische Staat grundsätzlich nicht willens, weiblichen Opfern schwerer, wiederholter, häuslicher Gewalt Schutz zu bieten (Rn. 16).
2. Es lässt sich nicht ohne Weiteres ausschließen, dass Opfer häuslicher Gewalt auch im Falle der Niederlassung in einer anderen Stadt der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufzufinden sind, da aufgrund des Meldewesens und des zentralen Datenerfassungssystems MERNIS in gewissem Umfang Möglichkeiten bestehen, Personen ausfindig zu machen. Vielmehr kommt es auf den jeweiligen Einzelfall an. Insoweit ist insbesondere zu würdigen, ob der Täter Beziehungen zu Behördenmitarbeitern hat, ob und wie er das Opfer in der Vergangenheit gefunden hat, ob das Opfer ein Kind mit dem Täter hat, ob dieses Kind im schulpflichtigen Alter ist, ob der Täter ein Sorgerecht hat und wie stark sein Wille ist, das Opfer aufzuspüren, wobei auch zu berücksichtigen ist, wieviel Zeit seit der Ausreise vergangen ist (Rn. 91) (Rn. 119)"
(Amtliche Leitsätze)
[...]
13 1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. [...]
16 Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Verfolgung durch ihren ehemaligen Partner beruht nicht auf der Eigenschaft der Klägerin als Ehefrau oder alleinstehende Mutter als soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG [...], sondern vielmehr auf ihrer Eigenschaft als Angehörige ihres ehemaligen Partners [...]. Anhaltspunkte dafür, dass der türkische Staat aus geschlechtsdiskriminierenden Gründen nicht willens ist, der Klägerin Schutz zu gewähren oder dass gerade kurdischen Frauen der Schutz verwehrt wird, lassen sich den Erkenntnismitteln nicht entnehmen. [...].
17 2. Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. [...]
19 Der Berichterstatter ist von den Schilderungen der Klägerin überzeugt im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO (dazu unter a)). Auf dieser Grundlage liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass sie bei ihrer Rückkehr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgesetzt sein wird (dazu unter b)). Die Gefahr geht auch von einem verfolgungsmächtigten Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3c AsylG aus (dazu unter c)). Eine interne Schutzmöglichkeit, § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3e Abs. 1 AsylG, besteht nicht (dazu unter d)). [...]
24b) Die Schilderungen der Klägerin zugrunde legend liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass sie bei ihrer Rückkehr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgesetzt sein wird. [...]
29 c) Die Gefahr geht auch von einem verfolgungsmächtigen Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3c AsylG aus, da der türkische Staat nicht willens ist, der Klägerin Schutz zu bieten (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3d Abs. 1 und 2 AsylG).
30 Nach § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3c AsylG kann der drohende Schaden von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3), ausgehen. Dabei muss der Schutz vor dem Schaden wirksam und nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um den Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von entsprechenden Handlungen und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat, § 3d Abs. 2 AsylG. Die Maßnahmen des Staates sind dann geeignet, wenn das Gefährdungsniveau einer "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" im Ergebnis im Einzelfall unterschritten wird [...].
31 Gemessen daran ist der türkische Staat grundsätzlich und auch in dem vorliegenden Einzelfall nicht willens, weiblichen Opfern schwerer, wiederholt angewandter häuslicher Gewalt Schutz zu bieten [...].
32 Im Juli 2021 ist die Türkei aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) ausgetreten [...]. Dennoch hat die Türkei in den letzten Jahren verschiedene Gesetze zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt erlassen, wie insbesondere das Gesetz Nr. 6284 zum Schutz der Familie und zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen. Dieses verpflichtet die Polizei und die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder von Gewalt bedrohten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Die möglichen Anordnungen für das Opfer sind die Unterbringung in einem Frauenhaus, die Eintragung von Eigentum auf den Namen des Opfers, die Ermöglichung eines Arbeitsplatzwechsels und – unter der Bedingung der informierten Zustimmung des Opfers – ein Identitätswechsel in lebensbedrohlichen Situationen sowie die Gewährung von finanzieller Hilfe, psychologischer und rechtlicher Beratung und zeitweiligem Schutz im Falle von Lebensbedrohung. Ferner können sogenannte Vertraulichkeitsanordnungen erlassen werden, aufgrund derer die Adressen von gefährdeten Frauen im zentralisierten E-Government-System in der Türkei nicht veröffentlicht werden dürfen [...]. Die Gerichte stellen eine einstweilige Verfügung für eine bestimmte Dauer von bis zu sechs Monaten aus. Das Opfer kann deren Verlängerung beantragen. Täter können mit kurzen Haftstrafen belegt oder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet werden, wenn sie gegen die Bedingungen der vorbeugenden Abmahnung verstoßen. In den Großstädten wurden Ermittlungsbüros für häusliche Gewalt eingerichtet, die den Staatsanwaltschaften unterstellt sind [...]. Zudem bieten 83 Frauenberatungsstellen der Anwaltskammern kostenlose Beratungsdienste für diejenigen an, die nicht genügend Informationen haben, wo und wann sie Rechtsmittel einlegen können [...]. Ferner wurden verschiedene Strafgesetze in Bezug auf Gewalt gegen Frauen oder Ehepartner verschärft [...]. Großstädte und Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohnern müssen Frauenhäuser einrichten. Tatsächlich existierten nach Angaben des türkischen Familienministeriums Anfang 2022 insgesamt 149 Frauenhäuser (davon 112 staatlich) mit einer Kapazität von insgesamt 3.624 Plätzen. Das Ministerium plant, die Anzahl der Frauenhäuser bis 2026 auf 174 zu erhöhen. Außerdem gibt es wenige private Einrichtungen wie das Frauenhaus von Mor Çatı in Istanbul sowie in Konya eine Anlaufstation für Männer. Nach Aussage staatlicher Stellen stehen diese Einrichtungen auch Rückkehrerinnen zur Verfügung [...].
33 Der Erlass dieser Gesetze zeigt zwar, dass seitens der gesetzgebenden Organe eine Bereitschaft besteht, häusliche Gewalt zu bekämpfen. Die Umsetzung durch die türkischen Behörden ist jedoch derart unzureichend, dass grundsätzlich nicht davon auszugehen ist, dass den Opfern in ausreichendem Umfang Schutz gewährt wird. [...]
88 Unter Gesamtwürdigung dessen ist festzustellen, dass der türkische Staat grundsätzlich nicht willens ist, weiblichen Opfern schwerwiegender, wiederholt angewandter häuslicher Gewalt in einem Umfang Schutz zu gewährleisten, dass keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erneuten Gewaltanwendung mehr bestünde, da die geltenden Gesetze nicht effektiv umgesetzt werden. Es bestehen bereits Probleme bei der Erstattung von Anzeigen, gerichtlich werden oft nur die leichtesten Maßnahmen angeordnet und weder die gerichtlichen Anordnungen noch Frauenhäuser bieten Schutz für einen hinreichenden Zeitraum.
89 d) Eine interne Schutzmöglichkeit, § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3e Abs. 1 AsylG, besteht ebenfalls nicht. [...]
91 Die Türkei bietet mit etwa 780.000 km² und 85 Millionen Einwohnern grundsätzlich vielfältige Möglichkeiten, unterzutauchen und so dem Zugriff des Täters häuslicher Gewalt zu entgehen. Aufgrund des Meldewesens und des zentralen Datenerfassungssystems MERNIS bestehen jedoch in gewissem Umfang Möglichkeiten, Personen ausfindig zu machen, auch wenn Dritte zu diesem System eigentlich keinen und Behörden nur unter bestimmten Bedingungen Zugang haben [...].
119 Unter Gesamtwürdigung dieser Erkenntnismittel lässt sich nicht ohne Weiteres ausschließen, dass Opfer häuslicher Gewalt auch im Falle der Niederlassung in einer anderen Stadt der Türkei der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Auffindung ausgesetzt sind. Vielmehr kommt es auf den jeweiligen Einzelfall an. Insoweit ist insbesondere zu würdigen, ob der Täter Beziehungen zu Behördenmitarbeitern hat, ob und wie er das Opfer in der Vergangenheit gefunden hat, ob das Opfer ein Kind mit dem Täter hat, ob dieses Kind im schulpflichtigen Alter ist, ob der Täter ein Sorgerecht hat und wie stark sein Wille ist, das Opfer aufzuspüren, wobei auch zu berücksichtigen ist, wie viel Zeit seit der Ausreise vergangen ist. [...]