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VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Beschluss vom 29.08.2025 - 4 E 3382/25 We - asyl.net: M33586
https://www.asyl.net/rsdb/m33586
Leitsatz:

Anspruch auf Erwerbstätigkeit während des Asylverfahrens auch nach Ende der Wohnpflicht in Aufnahmeeinrichtung:

Der in § 61 Abs. 1 S. 2 AsylG bezeichnete Anspruch auf Erwerbstätigkeit gilt auch, wenn keine Verpflichtung mehr besteht, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. § 61 Abs. 2 S. 5 AsylG sieht einen Verweis auf § 61 Abs. 1 S. 2 AsylG vor, in dem der Anspruch geregelt ist. Auch wenn der Wortlaut von § 61 Abs. 2 S. 5 AsylG uneindeutig ist ("Absatz 1 Satz 2 bleibt unberührt.") spricht einiges dafür, dass auch Personen, die nicht mehr verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, davon umfasst sein sollen und einen Anspruch auf Erwerbstätigkeit haben, wenn die übrigen Voraussetzungen vorliegen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Beschäftigungserlaubnis, Arbeitserlaubnis, Ausbildung, Asylverfahren, Erwerbstätigkeit, Wohnpflicht, Erstaufnahmeeinrichtung
Normen: AsylG § 61, BeschV § 32
Auszüge:

[...]

Ein Anordnungsanspruch in Form eines Anspruchs auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis ergibt sich vorliegend aus § 61 Abs. 2 S. 5 i.V.m. Abs. 1 S. 2 Hs. 1 AsylG. § 61 Abs. 1 S. 1 AsylG sieht zunächst ein grundsätzliches Verbot der Erwerbstätigkeit für die Dauer der Wohnpflicht in einer Aufnahmeeinrichtung vor. Gemäß Abs. 1 S. 2 ist dem Ausländer abweichend von Satz 1 die Ausübung einer Beschäftigung zu erlauben, wenn (1.) das Asylverfahren nicht innerhalb von 6 Monaten nach der Stellung des Asylantrags unanfechtbar abgeschlossen ist, (2.) die Bundesagentur für Arbeit zugestimmt hat oder durch Rechtsverordnung bestimmt ist, dass die Ausübung der Beschäftigung ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit zulässig ist, (3.) der Ausländer nicht Staatsangehöriger eines sicheren Herkunftsstaates i.S.d. § 29a AsylG ist und (4.) der Asylantrag nicht als offensichtlich unbegründet oder als unzulässig abgelehnt wurde, es sei denn das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung des Bundesamtes angeordnet. Abs. 2 S. 1 normiert einen Ermessensanspruch im Übrigen, d.h. bei nicht mehr bestehender Wohnverpflichtung. Gemäß Abs. 2 S. 5 bleibt Abs. 1 S. 2 unberührt.

Dabei ist § 61 Abs. 2 S. 5 AsylG nach Auffassung der Kammer so auszulegen, dass der in Absatz 1 der Vorschrift bezeichnete gebundene Anspruch auch nach der Dauer der Pflicht des Ausländers, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen der § 61 Abs. 2 und Abs. 1 S. 2 Hs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG, besteht [...].

Zwar wird diese Auslegung in der Rechtsprechung nicht vollständig geteilt (vgl. insoweit mit Überblick über den Meinungsstand mit abweichendem Ergebnis VG Potsdam [...]. Die Kammer hält jedoch die für die Annahme eines gebundenen Anspruches sprechenden Gründe aufgrund der nachfolgenden Überlegungen für überzeugender:

Der Wortlaut des § 61 Abs. 2 S. 5 AsylG ("Abs. 1 Satz 2 bleibt unberührt") ist zunächst nicht eindeutig. Auch ergibt sich aus den Gesetzgebungsmaterialien nicht hinreichend das vom Gesetzgeber (subjektiv) verfolgte Ziel [...]. Eine restriktive Lesart der Unberührtheitsklausel ist nicht allein schon deswegen anzunehmen, da der Gesetzgeber, sofern gewollt, die entsprechende Anwendung des Abs. 1 S. 2 hätte anordnen können. Zwar überdehnt die Annahme eines Anspruchs nach Abs. 1 S. 2 auch für nicht in einer Aufnahmeeinrichtung Wohnpflichtige den typischen rechtlichen Gehalt einer Unberührtheitsklausel [...]. Allerdings führt eine enge Auslegung keineswegs zu einem widerspruchsfreien Ergebnis. Denn nach dieser Lesart fände der erste Absatz ausschließlich auf Asylbewerber mit einer Wohnpflicht in Aufnahmeeinrichtungen Anwendung, der zweite Absatz ("im Übrigen") auf solche, für die eine entsprechende Pflicht nicht mehr besteht. Demnach gäbe es erst gar keinen Anwendungsbereich für eine Unberührtheitsklausel, da ein Berührungspunkt der beiden Konstellationen schlechthin ausgeschlossen wäre [...].

Jedoch ergibt sich nach Auffassung der Kammer aus dem Kontext der durch Artikel 3 des zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht [...] vom 15.08.2019 [...] veranlassten und zum 21. August 2019 in Kraft getretenen Änderung, welche die Einfügung des Abs. 2 S. 5 in § 61 AsylG umfasste, dass hierdurch ein Anspruch begründet werden sollte.

Dies wird zunächst daraus deutlich, dass mit der Gesetzesänderung die Vorgaben des Art. 15 Abs. 1 Richtlinie 2013/33/EU [...] umgesetzt wurden und sich aus dieser Vorschrift keinerlei Differenzierung beim Zugang zum Arbeitsmarkt nach einer Pflicht zum Wohnen in einer Aufnahmeeinrichtung ergibt. [...]

Dieser Auslegung steht auch nicht entgegen, dass die Gewährung eines gebundenen Anspruchs zur Umsetzung der Richtlinie als nicht erforderlich angesehen wird und der Gesetzgeber einen gewissen Ausgleich dafür geschaffen hat, dass ansonsten das Beschäftigungsverbot wegen längerer Unterbringungsmöglichkeiten in den Aufnahmeeinrichtungen sehr weit ausgedehnt worden wäre [...]. Zwar ist zutreffend, dass durch das 2. AusrPflDVG zeitgleich die Pflicht zum Wohnen in einer Aufnahmeeinrichtung in § 47 Abs. 1 AsylG von höchstens 6 Monaten auf höchstens 18 Monate ausgedehnt wurde. Aus Sicht der Kammer mangelt es jedoch an konkreten Anhaltspunkten dafür, dass der Gesetzgeber mit der Umsetzung von Art. 15 Abs. 1 RL 2013/33/EU eine "gespaltene", abhängig von der Wohnverpflichtung stehende, Lösung schaffen wollte; stattdessen liegt es nahe, dass der Gesetzgeber die neue, durch die Richtlinie vorgegebene Rechtslage insoweit undifferenziert umgesetzt hat, die entsprechende Problematik aber nur deshalb entstanden ist, weil zugleich daneben die vorherigen Regelungen möglichst weitergelten sollten [...]. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis im Anspruchswege lediglich einen Ausgleich für die Verlängerung der maximalen Dauer der Wohnverpflichtung bezwecken soll. Allein die Tatsache, dass die entsprechenden Gesetzesänderungen zum gleichen Zeitpunkt in Kraft traten, lässt diesbezüglich keinen zwingenden Rückschluss zu. [...]