Kein Leistungsausschluss von Asylbewerberleistungen bei Dublin-Bescheid:
Für einen Ausschluss vom Bezug von Asylbewerberleistungen nach § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG (sog. Dublinfälle) muss nach Auffassung des Senats die Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise bestehen. Die für freiwillige Ausreisen notwendigen Verwaltungsvereinbarungen mit anderen Mitgliedstaaten wurden (noch) nicht getroffen.
(Leitsätze der Redaktion; so auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.06.2025 - L 8 AY 12/25 B ER - asyl.net: M33390; a.A.: LSG Thüringen, Beschluss vom 16.05.2025 - L 8 AY 222/25 B ER - asyl.net: M33410)
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Die Beteiligten streiten um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen die Kürzung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). [...]
Mit Bescheid vom 15. Oktober 2024 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Das BAMF lehnte mit Bescheid vom 22. Januar 2025 u.a. den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab [...].
Mit Bescheid vom 2. April 2025 nahm der Antragsgegner den am 15. Oktober 2024 erlassenen Bescheid über die Gewährung von Leistungen gem. §§ 3, 3a AsylbLG mit sofortiger Wirkung gem. § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) zurück. Durch die Entscheidung des BAMF vom 22. Januar 2025 über die Ausreisepflicht des Antragstellers hätten sich nachträglich Tatsachen ergeben, die begründen würden, dass der Erlass des Bescheides über die Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG vom 15. Oktober 2024 rechtswidrig gewesen sei. [...]
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
Zu Recht hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 14. Mai 2025 die aufschiebende Wirkung des am 23. April 2025 erhobenen Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 2. April 2025 angeordnet. [...]
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 2. April 2025 war nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG anzuordnen. [...]
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen jedoch nach der im Rahmen des Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz gebotenen Prüfung nicht vor.
Danach haben Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG, deren Asylantrag durch eine Entscheidung des BAMF nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 des AsylG als unzulässig abgelehnt wurde, für die eine Abschiebung nach § 34a Absatz 1 Satz 1 zweite Alternative des AsylG angeordnet wurde und für die nach der Feststellung des BAMF die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist, keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz, § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG. Hilfebedürftigen Ausländern, die Satz 1 unterfallen, werden bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von zwei Wochen, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 2, § 1 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG.
Der Antragsteller ist seit der Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrags vollziehbar ausreisepflichtig und damit gem. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG leistungsberechtigt. Zudem hat das BAMF den Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG als unzulässig abgelehnt (sog. Dublin-III-Fälle) und eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG erlassen.
Bei der gesonderten Feststellung des BAMF über die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Ausreise handelt es sich nicht um eine ausländerrechtliche Entscheidung, die Tatbestandswirkung für die vorliegende Prüfung der Leistungen nach dem AsylbLG entfaltet und entsprechend der sozialgerichtlichen Beurteilung entzogen ist.
Hier fehlt es bereits an einer gesonderten Feststellung des BAMF über die vom Wortlaut der Norm geforderte rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Ausreise des Antragstellers im Rahmen des Bescheides vom 22. Januar 2025, der sich auf die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG beschränkt. Der Hinweis im Rahmen des BAMF-Bescheides vom 22. Januar 2025, wonach der Anwendungsbereich des Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 AsylbLG eröffnet ist, dürfte hierfür nicht genügen.
In Rechtsprechung und Literatur ist die Bedeutung dieses Tatbestandsmerkmal noch weitgehend ungeklärt [...]. Dagegen, dass dieses Tatbestandsmerkmal rein "klarstellenden" Charakter hat (so BR-Drs. 429/25, S. 174 zu einem neuen Änderungsentwurf des § 1 Abs. 4 AsylbLG), spricht nach der Auffassung des Senats im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz zunächst, dass zur Umsetzung des derzeit geltenden § 1 Absatz 4 Satz 1 Nummer 2 AsylbLG ein neuer Passus in den sog. Dublin-Bescheiden eingefügt werden soll, in dem festgestellt wird, dass die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist [...]. Dies fehlt hier.
Zudem ist nach der Auffassung des Senats die tatbestandliche Ausreisemöglichkeit so auszulegen, dass eine Möglichkeit zur freiwilligen selbstinitiierten Ausreise vorliegen muss. Dies ergibt sich bereits aus dem Willen des Gesetzgebers. Danach ist die "selbstinitiierte Ausreise in der Regel mit der Unzulässigkeitsentscheidung innerhalb von zwei Wochen möglich, wenn der Transfer gewährleistet ist. Zu diesem Zweck wird dem Ausländer ein Laissez-passer ausgestellt" [...]. Bestätigt wird diese Sichtweise durch die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des nationalen Rechts an die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems [...] vom 5. September 2025 bezüglich der bereits oben genannten, geplanten Änderung des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG, wonach der Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG nur erfolgen kann, wenn dem Betroffenen die freiwillige Ausreise auch tatsächlich möglich ist [...]. Gleichfalls spricht hierfür ein systematischer Vergleich zu dem Leistungsausschluss nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - SGB XII - [...]. Der AsylbLG-Leistungsausschluss ist dem Leistungsausschluss nach dem SGB XII nachgebildet [...].
Freiwillige selbstinitiierte Ausreisen sind im Rahmen des Dublin-Verfahrens in der Regel jedoch nicht zugelassen [...]. Die hierfür notwendigen Verwaltungsvereinbarungen mit anderen Mitgliedstaaten wurden (noch) nicht getroffen [...]. Zum Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheides entstand eine konkrete Ausreisemöglichkeit erst dann, wenn (dem Dublin-Bescheid nachfolgend) die Überstellung im konkreten Fall behördlich organisiert wurde. Der durch das BAMF koordinierte Überstellungsprozess erfolgt dabei in Zusammenarbeit mit den Ausländerbehörden (ABH), dem anderen Mitgliedstaat (MS) und der Bundespolizei [...]. Ab dem Erlass des Dublin-Bescheids vergingen 2024 und 2025 bis zur Überstellung durchschnittlich fast fünf Monate, für Frankreich im Zeitraum Januar bis April 2025 4,3 Monate [...].
Auch das BMI geht in seinem Auslegungsschreiben vom 7. Februar 2025 von einer einschränkenden Auslegung des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylblG aus. So wird insoweit folgendes ausgeführt: "Vor dem Hintergrund des zunächst weiter erforderlichen komplexen Zusammenwirkens der Mitgliedstaaten im Überstellungsprozess kann § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylblG dahingehend ausgelegt werden, dass Leistungen entzogen werden können, wenn sich die tatsächliche Ausreisemöglichkeit im Überstellungsprozess so weit verdichtet hat, dass eine Überstellung konkret absehbar ist". Diese einschränkende Auslegung wird auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur und vom Bundesland Niedersachsen geteilt [...].
Für eine solche konkrete Absehbarkeit finden sich vorliegend im Zeitpunkt des Bescheiderlasses keinerlei Anhaltspunkte. [...]
Nach der gegenwärtig noch geltenden Fassung der Aufnahme-RL 2013/33/EU i.V.m. der Dublin III-VO ist weder eine Leistungseinschränkung noch ein Leistungsausschluss im Dublin-Verfahren vorgesehen. Nach Auffassung des Bundessozialgerichts und des Gerichtshofes der Europäischen Union muss der Aufenthaltsstaat zeitlich bis zur tatsächlichen Überstellung der Betroffenen die Leistungen i.S.d. Art. 17 ff. RL 2013/33/EU erbringen [...]. Insoweit ist der Senat der Auffassung, dass die Neufassung der Aufnahme-RL durch die RL 2024/1346/EU derzeit für die Auslegung keine Vorwirkungen zu Lasten der Betroffenen entfalten kann. [...]