BlueSky

VG Karlsruhe

Merkliste
Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 19.09.2025 - A 18 K 454/25 - asyl.net: M33652
https://www.asyl.net/rsdb/m33652
Leitsatz:

Ethnische Armenier:innen aus der ehemaligen Republik Bergkarabach sind de facto-Staatenlose:

1. Ethnische Armenier:innen aus der ehemaligen Republik Bergkarabach sind keine Staatsangehörigen Armeniens. Armenische Nationalpässe, die die Ziffernfolge "070" aufweisen, sind nicht geeignet, eine armenische Staatsangehörigkeit nachzuweisen.

2. Ethnische Armenier:innen aus der ehemaligen Republik Bergkarabach sind auch keine Staatsangehörigen Aserbaidschans. Aserbaidschan gilt jedoch als Land des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Bst. b) AsylG, da Aserbaidschan das Gebiet Bergkarabach seit September 2023 vollständig kontrolliert.

3. Asylanträge ethnischer Armenier:innen aus der ehemaligen Republik Bergkarabach sind nicht im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG (aufnahmebereiter Drittstaat) unzulässig. Sie haben in Aserbaidschan fortlaufend systematische Diskriminierung zu befürchten.

4. Frontkämpfer, die im Bergkarabach Konflikt gegen aserbaidschanische Einheiten gekämpft haben, sind besonders gefährdet. 

(Leitsätze der Redaktion; bezugnehmend auf: VG Kassel, Urteil vom 16.09.2024 - 1 K 1819/23.KS.A - asyl.net: M32802)

Schlagwörter: Armenier, Aserbaidschan, Berg-Karabach, aufnahmebereiter Drittstaat
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 2 Bst. b), AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

Die Kläger, Inhaber armenischer Reisepässe, vormals Bewohner der Region Bergkarabach, armenischer Volkszugehörigkeit und christlich-orthodoxen Glaubens reisten nach einen Angaben am ... 2021 in das Bundesgebiet ein und stellten am 17.11.2021 Asylanträge, einschließlich der Anträge auf Zuerkennung internationalen Schutzes. [...]

2. Gemessen an diesen Maßstäben haben die Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

a) Herkunftsland der Kläger ist vorliegend Aserbaidschan. Die Kläger sind der Volkszugehörigkeit nach Armenier, jedoch nicht zugleich auch Staatsangehörige der Republik Armenien (aa). Die Kläger besitzen zugleich auch nicht die Staatsangehörigkeit Aserbaidschans (bb).

aa) Die Kläger besitzen zur Überzeugung des Gerichts nicht die Staatsangehörigkeit der Republik Armenien.

Die Kläger haben im hiesigen Verfahren mit Schriftsatz vom 18.06.2025 auf sie beide bezogene sogenannte "Bescheinigungen", ausgestellt vom Migrations- und Staatsbürgerschaftsdienst der Republik Armenien, über ihre armenische Staatsangehörigkeit nebst Apostille sowie in übersetzter Fassung vorgelegt. Diese Unterlagen hat das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung im Original in Augenschein genommen. Zweifel an der Echtheit bestehen nicht. In den Bescheinigungen wird jeweils ausgeführt, dass die Kläger nach den im staatlichen Bevölkerungsregister der Republik Armenien vorhandenen Daten nicht die Staatsangehörigkeit Armeniens besitzen und auch sonst keine Unterlagen vorlägen, durch welche die Staatsbürgerschaft nachgewiesen werden könnte.

Hinzu kommt, dass die Kläger jeweils armenische Nationalpässe besitzen und vorgelegt haben, welche die Ziffernkombination "070" aufweisen. Solche (Auslandsreise-) Pässe wurden und werden nach Lage der tatsächlichen Erkenntnisse des Gerichts ausschließlich an Bewohner der Republik Bergkarabach bzw. sodann seit 2020 der Republik Arzach ausgegeben und sind gerade nicht geeignet, einen Nachweis über die armenische Staatsangehörigkeit zu führen oder einen solchen Umstand auch nicht zu indizieren [...].

Die Erwägungen der Beklagten, in der Geburtsurkunde der Kläger wie auch in deren Eheurkunde sei als Staatsangehörigkeit armenisch eingetragen, vermag das aufgrund der vorhergehend gewürdigten Unterlagen gefundene Ergebnis nicht in Zweifel zu ziehen. Die von der Beklagten aus den zur Bundesamtsakte gereichten Unterlagen abgeleitete vermeintliche Haltung der Republik Armenien, welche die Kläger vorgeblich als Armenier beurteile, geht fehl. Sie lässt sich aus den vorgelegten Unterlagen nicht ableiten. Denn es handelt sich, dies verkennt die Beklagte, sämtlich nicht um Urkunden, welche von Behörden der Republik Armenien ausgestellt worden sind, sondern um solche von Behörden der seinerzeitigen Republik Bergkarabach. Dies ist nach dem Inhalt der Briefköpfe, Behördenbezeichnungen und Dienstsiegel auf den Urkunden ersichtlich. Die Geburtsurkunden wurden vom Standesamt in Stepanakert ausgestellt. Der Wehrpass trägt verschiedentlich Dienstsiegel der "Republik Bergkarabach" und die Heiratsurkunde trägt als Dienstsiegel den Stempel des "Justizministeriums der Republik Bergkarabach" nebst dem Staatswappen dieser Republik. Auf ein originär von Behörden der Republik Armenien ausgestelltes Dokument nimmt die Beklagte nicht Bezug. [...]

bb) Die Kläger besitzen auch nicht die Staatsangehörigkeit Aserbaidschans. Hierfür ist von den Beteiligten nichts vorgetragen.

cc) Folglich handelt es sich bei den Klägern nach dem Ende der de-facto-Republik Bergkarabach bzw. Arzach nach dem Dafürhalten des Gerichts um staatenlose Personen.

Herkunftsland der Kläger im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) AsylG ist damit nach Maßgabe der politischen Grenzverläufe zum maßgeblichen nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen - jetzigen - Zeitpunkt für die Entscheidung über die Klagen die Republik Aserbaidschan, auf deren Hoheitsgebiet die Kläger Zeit ihres Aufenthalts in der de-facto-Republik Bergkarabach bzw. Arzach ihren gewöhnlichen Aufenthalt bzw. ihren Lebensmittelpunkt gehabt haben. Nach endgültiger Einnahme des gesamten Territoriums der vormaligen Republik Bergkarabach bzw. Arzach durch Aserbaidschan im September 2023 ist - jedenfalls im hiesigen asylrechtlichen Kontext - von einer Zugehörigkeit dieser Gebiet zu Aserbaidschan aus [...].

b) Die Asylanträge - einschließlich der Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes [...] - sind auch nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG als unzulässig abzulehnen. [...]

(1) In materieller Hinsicht muss der Drittstaat bereit sein, den Ausländer wieder aufzunehmen und diesem eine den Anforderungen des § 27 AsylG i.V.m. Art. 35 Richtlinie 2013/32/EU entsprechende Sicherheit zu gewährleisten. [...]

(2) Die Sicherheit vor Verfolgung durch den Drittstaat bzw. ersten Asylstaat muss dabei bereits zum Zeitpunkt des Aufenthalts des Ausländers in diesem vorgelegen haben. Eine erst nachträglich, also nachdem der Ausländer den Drittstaat in Richtung der Bundesrepublik verlassen hat, eingetretene Sicherheit vor Verfolgung reicht hierfür nach einhelliger Meinung in Rechtsprechung und Literatur nicht aus [...]

Bei Betrachtung anhand dieser Maßstäbe ist für die am 10. September 2021 nach Armenien eingereisten und bereits Anfang Oktober 2021 weitergereisten Kläger eine bereits vorhandene Schutzgewährung durch Armenien - zum damaligen Zeitpunkt - nicht ersichtlich. Anders als spätere Äußerungen der für die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Republik Arzach zuständigen armenischen Stellen [...], die eine Aufnahme- und Schutzbereitschaft erkennen lassen, ist eine Haltung der Republik Armenien, die schutzbereite Aufnahme von armenischen Volkszugehörigen aus der Republik Arzach zum damaligen Zeitpunkt im Herbst 2021 weder den Erkenntnismitteln noch sonstigen Quellen zu entnehmen. Vielmehr lassen die Erkenntnismittel aus damaliger Zeit das Interesse der Republik Armenien erkennen, eine zahlenmäßig weitgehende Rückkehr solcher Flüchtlinge in die Republik Arzach zu erreichen [...].

c) Den Klägern droht im Falle einer Rückkehr in ihr nach den obigen Ausführungen gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) AsylG anzunehmendes Herkunftsland Aserbaidschan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG aufgrund ihrer Zugehörigkeit einerseits zur Volksgruppe der Armenier und andererseits zur im weiteren Sinne zu bestimmenden sozialen Gruppe der armenischstämmigen vormaligen Bewohner der Republik Bergkarabach (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 Buchst. a) AsylG). [...]

Im vorliegenden Fall kommt mit Blick auf die Gefährdung des Klägers zu 1. noch als weiterer, vom Verwaltungsgericht Kassel in der zitierten Entscheidung nicht in den Blick genommener Ansatz hinzu, dass dieser nach seinen insofern glaubhaften Angaben im Bergkarabach-Konflikt des Jahres 2020 als Frontkämpfer gegen aserbaidschanische Einheiten gekämpft hat und somit auch aus diesem im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der früheren de-facto-Republik Bergkarabach bzw. Arzach exponiert ist. Ob hieraus über das bisher genannte hinaus noch eine individuelle Verfolgung drohen könnte, mag hier im Ergebnis dahinstehen. Denn es führt jedenfalls zu einem weiteren bei lebensnaher Betrachtung nicht von der Hand zu weisenden Diskriminierungsansatz. [...]