Der EuGH hat am 10. Juni 2021 eine klarstellende Entscheidung zum subsidiären Schutz getroffen (C-901/19 CF, DN gg. Deutschland - asyl.net: M29696; siehe hierzu auch Pro Asyl Meldung vom 10.6.2021). In den beiden zugrundeliegenden Fällen ging es um zwei afghanische Männer, deren Asylanträge vom BAMF und den jeweils erstinstanzlich zuständigen Verwaltungsgerichten Karlsruhe und Freiburg i. Brsg. abgelehnt worden waren. In der Berufungsinstanz hatte der VGH Baden-Württemberg über ihre Klagen zu entscheiden. Der VGH kam zu dem Schluss, dass den Betroffenen subsidiärer Schutz zu gewähren ist, was aber nicht der Rechtsprechung des BVerwG entsprochen hätte. Daher setzte der VGH die Verfahren aus und fragte den EuGH, ob die Auffassung des BVerwG mit Unionsrecht vereinbar ist (Beschluss vom 29.11.2019 - A 11 S 2374/19; A 11 S 2375/19 - asyl.net: M27925).
Die europäische Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU, im Folgenden: QRL) sieht in verschiedenen Konstellationen die Gewährung subsidiären Schutzes vor, wenn den betroffenen Personen ein „ernsthafter Schaden“ im Herkunftsstaat droht. Bei den Vorlagefragen des VGH ging es um die dritte Variante des drohenden ernsthaften Schadens. Diese ist in Art. 15 Bst. c i.V.m. Art. 2 Bst. f QRL geregelt (und in § 4 Abs. 1 S. 1 und S. 2 Nr. 3 AsylG in nationales Recht umgesetzt) und setzt voraus, dass eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ der betroffenen Person „infolge willkürlicher Gewalt“ im Rahmen eines bewaffneten Konflikts besteht.
Vorlage des VGH Baden-Württemberg
Dem VGH geht es um „eine weitere Klärung der unionsrechtlichen Maßstäbe für die Zuerkennung subsidiären Schutzes in Fällen konfliktbedingter willkürlicher Gewalt zulasten der Zivilbevölkerung“. Laut VGH gibt es zu diesen Fragestellungen noch keine EuGH-Entscheidung und die Rechtsprechung geht nicht einheitlich damit um: Teilweise wird eine umfassende Beurteilung des Einzelfalls vorgenommen, zum Teil wird hauptsächlich auf die Anzahl ziviler Opfer abgestellt.
Für die Verfahren vor dem VGH seien die Antworten des EuGH entscheidungserheblich. In beiden Fällen befand der VGH, dass nach umfassender Beurteilung gefahrbegründender Umstände - über die reinen Opferzahlen hinaus - das Gewaltniveau in der Herkunftsprovinz der Betroffenen als derart hoch einzustufen sei, dass sie allein aufgrund ihrer Anwesenheit dort ernsthaft bedroht wären. Die Männer stammen aus der Provinz Nangarhar, die im Osten Afghanistans liegt und an Pakistan grenzt. Dort kämpfen laut dem VGH verschiedene regierungsfeindliche Milizen, vor allem die Taliban und der Islamische Staat, gegen Regierungstruppen und auch gegeneinander. Die Lage sei sehr instabil, die Grenznähe zu Pakistan ermögliche Rückzug und Nachschub, die Zivilbevölkerung werde massiv angegriffen und terrorisiert. Da die Betroffenen auch keine interne Schutzalternative in Anspruch nehmen könnten, wäre ihnen nach dieser Prüfung der subsidiäre Schutz zu gewähren.
Sollte es jedoch, wie es der Rechtsprechung des BVerwG entspricht, maßgeblich von der Zahl ziviler Opfer abhängen, ob eine ernsthafte individuelle Bedrohung vorliegt, wäre die Zuerkennung subsidiären Schutzes abzulehnen. So seien im Jahr 2018 “nur“ etwa 0,8 bis 0,11 % der Zivilbevölkerung den Kämpfen zum Opfer gefallen.
Bisherige Rechtsprechung des BVerwG
Das BVerwG hat es in ständiger Rechtsprechung (Urteil vom 13.02.2014 - 10 C 6.13 - asyl.net: M21737; Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - asyl.net: M19313; Urteil vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 - asyl.net: M16130) für die Bejahung einer ernsthaften individuellen Bedrohung zur zwingenden Voraussetzung erklärt, dass eine quantitative Ermittlung von Opferzahlen vorgenommen wird. Dabei soll das Risiko, im betreffenden Gebiet getötet oder verletzt zu werden, anhand des Verhältnisses der Opferzahl zur Gesamtzahl der dortigen Bevölkerung ermittelt werden (sogenannter „body count“; BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - asyl.net: M19313, Rn. 22). Zwar bedarf es laut BVerwG darüber hinaus einer wertenden Gesamtbetrachtung, dies jedoch nur, wenn das so berechnete Risiko eine bestimmte Schwelle überschreitet. Diesen Mindestwert hat das BVerwG nicht genau angegeben. In einem Fall hatte es allerdings ein für die irakische Provinz Ninive im Jahr 2009 berechnetes Risiko von 1:800 (ca. 0,12 %), getötet oder verletzt zu werden, als zu niedrig eingestuft. Ein derartiges Verhältnis sei „so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt“, dass eine darüber hinausgehende Abwägung ausbleiben könne.
Aufgrund dieser Auslegung des BVerwG geht laut dem VGH die obergerichtliche Rechtsprechung in Deutschland davon aus, dass eine quantitative Mindestschwelle für die Gewährung subsidiären Schutzes bei Gefahr durch bewaffnete Konflikte erforderlich ist. Die Rechtsprechung in anderen europäischen Staaten zu dieser Frage ist laut dem VGH „höchst uneinheitlich“.
Die aktuelle Entscheidung des EuGH
Der EuGH betont zunächst, dass es ein wesentliches Ziel der QRL sei, die einheitliche Anwendung der Kriterien zur Bestimmung von Personen, die internationalen Schutz benötigen, zu gewährleisten. Die hier einschlägige Variante des ernsthaften Schadens nach Art. 15 Bst. c QRL (bewaffneter Konflikt) umfasse anders als die Varianten der Bst. a (Todesstrafe) und b (Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung) Gefahren „allgemeinerer Art“. Das Kriterium der „individuellen“ Bedrohung stelle daher auf Schäden ab, die Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität treffen können, wenn in dem betreffenden Konflikt ein so hohes Gewaltniveau herrscht, dass Betroffene allein aufgrund ihrer Anwesenheit dort gefährdet sind. Mit diesen Ausführungen bezieht sich der Gerichtshof auf seine frühere Rechtsprechung (Urteil vom 17.02.2009 - Rs. C-465/07, Elgafaji gg Niederlande - asyl.net: M14960).
Die vom BVerwG herangezogene Mindestopferzahl sei daher zwar relevant für die Bedrohungsprognose, könne jedoch nicht das „einzige ausschlaggebende Kriterium“ dafür sein. Die systematische Anwendung eines einzigen quantitativen Kriteriums sei nicht zuverlässig genug, da es in Konflikten schwierig sei, verlässliche Informationen zu bekommen. Hierdurch könne die durch die QRL bezweckte Schutzgewährung an diejenigen Personen, die den Schutz benötigen, vereitelt werden.
Zudem stellt der EuGH darauf ab, dass die Anwendung einer Mindestopferschwelle dazu führen könnte, dass sich Schutzsuchende in andere EU-Mitgliedstaaten begeben könnten, in denen eine solche Schwelle niedriger oder gar nicht angesetzt wird (sogenanntes forum shopping). Ziel der Angleichung der Vorschriften über die Schutzgewährung sei jedoch insbesondere, die Sekundärmigration von Asylsuchenden zwischen den Mitgliedstaaten „einzudämmen“, die auf unterschiedlichen Rechtsnormen beruhe.
Da eine reine Mindestzahl ziviler Opfer nicht ausschlaggebend sein könne und das Kriterium "ernsthafte individuelle Bedrohung" weit auszulegen sei, bedarf es laut EuGH einer umfassenden Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation im Herkunftsland der schutzsuchenden Person prägen. Dies ergebe sich auch aus Art. 4 Abs. 3 Bst. a QRL, wonach u.a. „alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen“ zu prüfen sind. Konkret zu berücksichtigen seien insbesondere
- die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen,
- der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte,
- die Dauer des Konflikts,
- das geografische Ausmaß willkürlicher Gewalt,
- die Frage an welchem Ort sich die betroffene Person bei Rückkehr tatsächlich aufhalten wird,
- (absichtliche) Angriffe der Konfliktparteien auf Zivilpersonen.
Auswirkungen auf künftige Entscheidungen
Auch nach dieser grundlegenden Entscheidung des EuGH kann die Feststellung einer „Mindestopferzahl“ ein Kriterium für die Bestimmung einer „ernsthaften Gefahr“ im Rahmen des subsidiären Schutzes darstellen. Sie darf jedoch nicht mehr als alleiniges Kriterium bzw. als Voraussetzung für die weitere Prüfung herangezogen werden.
Die Entscheidung des EuGH wird als Angleichung der Prüfungsmaßstäbe an diejenigen gesehen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in solchen Fallkonstellationen ansetzt (siehe Peter von Auer im VerfBlog). Vor allem in Situationen, in denen Zivilpersonen allein aufgrund ihrer Anwesenheit im Konfliktgebiet einer Gefahr ausgesetzt sind, geht der EGMR davon aus, dass sowohl die Schwelle einer Verletzung des Verbots unmenschlicher Behandlung nach Art. 3 EMRK als auch die aus Art. 15 Abs. 2 Bst. c QRL erreicht werde, beide Bestimmungen bieten laut EGMR vergleichbaren Schutz (Urteil vom 28.6.2011, Nr. 8319/07 und 11449/07, Rn. 226). Dabei sind auch nach der Rechtsprechung des EGMR sämtliche Umstände des Einzelfalls „kumulativ“ zu berücksichtigen. Dementsprechend wird sich die deutsche Rechtsprechung, aber auch die Entscheidungspraxis des BAMF, ändern müssen.