VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Beschluss vom 03.05.2018 - 6 B 172/18 MD - asyl.net: M26287
https://www.asyl.net/rsdb/M26287
Leitsatz:

Verpflichtung zur vorläufigen Inobhutnahme bei noch offener Altersfeststellung:

1. Bei Zweifeln an der Minderjährigkeit einer jungen asylsuchenden Person müssen von Amts wegen alle Möglichkeiten zur Altersfeststellung ausgeschöpft werden, bevor die Inobhutnahme durch das Jugendamt abgelehnt werden kann. Dies umfasst insbesondere auch körperliche Untersuchungen.

2. Ist eine verlässliche Klärung nicht zeitnah möglich, hat das Jugendamt gleichwohl die Inobhutnahme anzuordnen, bis das tatsächliche Alter der betroffenen Person festgestellt ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf VGH Bayern, Beschluss vom 23.09.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - asyl.net: M22712)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, minderjährig, Volljährigkeit, Inobhutnahme, Altersfeststellung, Afghanistan, Tazkira,
Normen: VwGO § 123, SGB VIII § 42 Abs. 2 S. 1, SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[…]

Der Antragsteller hat vorliegend sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Die Antragsgegnerin ist gemäß § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII berechtigt und verpflichtet, einen ausländischen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn er unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. In Streit steht vorliegend allein die Frage, ob der Antragsteller Jugendlicher, das heißt gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII bereits 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal "Jugendlicher" bezieht sich das zur Entscheidung berufene Gericht unter Fortführung seiner Kammerrechtsprechung (VG Magdeburg, Beschluss vom 12.05.2016 - 6 B 170/16 MD) auf folgende Ausführungen des Verwaltungsgerichts Augsburg (Beschluss vom 23.09.2015 - Au 3 E 15.1306 -, juris Rn. 29; vgl. ebenso Bayer. VGH, Beschl. v. 23.09.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 -, juris Rn. 21) und macht sich diese zu Eigen: "Da eine Inobhutnahme Volljähriger rechtswidrig ist, hat das Jugendamt das Alter des Betroffenen festzustellen, ohne insoweit an die Feststellungen anderer Behörden gebunden zu sein (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2015, 131 m.w.N.). Eine Altersschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale stellt für sich genommen keine ausreichende Grundlage dar. Dies gilt auch dann, wenn sie durch Personal erfolgt, das in diesem Bereich erfahren ist (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 14.10.2009 - 6 S 33.09 -, JAmt 2010, 46). Eine zuverlässige Altersdiagnostik setzt vielmehr voraus, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse einer körperlichen Untersuchung, gegebenenfalls auch einer Röntgenuntersuchung der Hand und der Schlüsselbeine, sowie einer zahnärztlichen Untersuchung zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammengeführt werden (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2014 a.a.O.; OLG München, B.v. 15.3.2012 - 26 UF 308/12 - juris, Rn. 9). Bestehen ernsthafte Zweifel hinsichtlich des Alters des Betroffenen, so hat das Jugendamt (§ 20 SGB X) von Amts wegen alle Möglichkeiten auszuschöpfen, das Alter des Betroffenen festzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2014 a.a.O.; OLG München, B.v. 15.3.2012 a.a.O.; für das Kindschaftsrecht; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 20.10.2011 - 6 S 51.11 u.a. - juris, Rn. 6; B.v. 4.3.2013 - 6 S 3.13 u.a. -, juris, Rn. 9). Erst wenn alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft sind, trifft den um Inobhutnahme bittenden Minderjährigen die materielle Beweislast für das von ihm behauptete Alter als anspruchsbegründende Tatsache (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 20.10.2011 - 6 S 51.11 u.a. - juris, Rn. 6).

Lässt sich eine verlässliche Klärung des Alters nicht sogleich herbeiführen, so hat das Jugendamt im Zweifel, also dann, wenn das Vorliegen von Minderjährigkeit nicht sicher ausgeschlossen werden kann, eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gleichwohl anzuordnen, bis das tatsächliche Alter des Betroffenen festgestellt ist (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - BayVBl 2015, 131 m.w.N.)." […]

Die Fragen, wann der Antragsteller tatsächlich geboren, welchen Alters er dem entsprechend aktuell ist und ob er danach als Jugendlicher dem Anwendungsbereich des § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII unterfällt, sind derzeit als klärungsbedürftig und offen anzusehen. Der Antragsgegner hat insoweit auch nicht schon alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft. Vielmehr gibt er in seiner Antragserwiderung an, weitere Altersfeststellungen seien vorgesehen.

Aufgrund dessen ist zur Wahrung des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG im Rahmen einer Folgenabwägung über den Erlass der einstweiligen Anordnung zu entscheiden, wobei insbesondere der Schutz Minderjähriger in die Betrachtung einzubeziehen ist (vgl. BayVGH, a.a.O. Rn. 25). Vorliegend überwiegen insoweit die individuellen Interessen des Antragstellers gegenüber den möglicherweise entgegenstehenden öffentlichen Interessen. […]

Dem steht auch nicht entgegen, dass eine körperliche Untersuchung unter Umständen nicht zu einer eindeutigen Altersfeststellung führen wird. Sollte danach weiterhin die Minderjährigkeit des Antragstellers genauso wahrscheinlich sein wie seine Volljährigkeit, müsste der Antragsteller im Zweifel als Minderjähriger betrachtet und zum Schutz in Obhut genommen werden. Eine Beweisantizipation darf jedenfalls nicht erfolgen.

Der Antragsteller kann auch nicht darauf verwiesen werden, bis zur endgültigen Klärung seines Alters in einer Gemeinschaftsunterkunft zu verbleiben, da eine Unterbringung dort und eine solche in einer Jugendhilfeeinrichtung nicht annähernd gleichwertig sind (vgl. VG Augsburg, a.a.O. Rn. 34). […]