VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.09.2018 - 11 S 240/17 - asyl.net: M26714
https://www.asyl.net/rsdb/M26714
Leitsatz:

Bedeutung des tatsächlichen Elternverantwortung für den Elternnachzug:

1. Die formelle Inhaberschaft des Personensorgerechts ist Voraussetzung für den Elternnachzug, sie allein reicht aber nicht aus (Fortführung von VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.07.2018 - 11 S 1224/18 - asyl.net: M26472).

2. Es kommt darauf an, dass die elterliche Verantwortung tatsächlich aktiv wahrgenommen wird (Fortführung von VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 30.11.2001 - 11 S 1700/01 - asyl.net: M2217).

3. Ob die Personensorge in Form einer aktiven Elternverantwortung tatsächlich wahrgenommen wird, ist anhand der gleichen Maßstäbe zu beurteilen, die auch für die Frage der familiären Lebensgemeinschaft durch Umgangskontakte angewendet werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sorgerecht, Umgangsrecht, Sicherung des Lebensunterhalts, elterliche Verantwortung, Elternverantwortung, minderjährige Kinder, Elternnachzug,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2, AufenthG § 27 Abs. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG setzt voraus, dass dem Ausländer die Personensorge für den Minderjährigen tatsächlich zusteht (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 22.04.1997 - 1 B 82.97 -, juris; ebenso bereits BVerwG, Beschluss vom 10.03.1995 - 1 B 217.94 -, juris, Rn. 3; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.05.1993 - 11 S 714/93 -, juris, Rn. 4; implizit vorausgesetzt bei Bayer. VGH, Urteil vom 26.09.2016 - 10 B 13.1318 -, juris, Rn. 31; vgl. darüber hinaus Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 28 AufenthG Rn. 25; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 85. Aktualisierung (April 2014), § 28 AufenthG Rn. 11; Marx, in: GK-AufenthG, 89. Lieferung (Juni 2017), § 28 Rn. 98 f.; Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 18. Edition, Stand: 01.05.2018, § 28 AufenthG Rn. 24; Zeitler, HTK-AuslR / § 28 AufenthG / zu Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Stand: 18.11.2016, Rn. 7); ist der ausländische Elternteil nicht personensorgeberechtigt, so ist er auf die Ermessensvorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu verweisen (vgl. zum systematischen Verhältnis der beiden vorgenannten Vorschriften zuletzt eingehend VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.07.2018 - 11 S 1224/18 -, juris). [...]

Das Tatbestandsmerkmal "zur Ausübung der Personensorge" in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG greift die familienrechtliche Begriffsbildung in § 1626 Abs. 1 Satz 2 BGB auf (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 85. Aktualisierung (April 2014), § 28 AufenthG Rn. 11; Marx, in: GK-AufenthG, 89. Lieferung (Juni 2017), § 28 Rn. 99: Begriff der Personensorge "identisch"; für § 23 Abs. 1 Nr. 3 AuslG bereits BVerwG, Beschluss vom 22.04.1997 - 1 B 82.97 -, juris, Rn. 5). Der aufenthaltsrechtliche Begriff der Personensorge, den nach einer vereinheitlichenden Korrektur nunmehr auch § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG verwendet, ist demnach familienrechtlich vorgeprägt (vgl. BT-Drs. 17/5470, S. 21: Die Terminologie des Aufenthaltsrechts knüpfe "spezifisch an die Personensorge und nicht allgemein an die elterliche Sorge" an.). § 1626 Abs. 1 BGB enthält insoweit drei Legaldefinitionen: Nach Satz 1 haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst nach Satz 2 die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge). § 1627 Satz 1 BGB regelt weiter, wie die Eltern die elterliche Sorge "auszuüben" haben.

Da sich auch der Begriff der "Ausübung" im Aufenthaltsrecht wiederfindet, liegt auf der Hand, dass die formale Inhaberschaft des Personensorgerechts lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Erfüllung des Tatbestands des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG darstellt. Vielmehr folgt aus der Verwendung dieses Begriffs, dass zur bloßen Inhaberschaft ein Handlungselement hinzukommen muss, das auf eine spezifische Beziehung zwischen Kind und Elternteil angelegt ist. Der sorgeberechtigte ausländische Elternteil eines minderjährigen deutschen Kindes übt die Personensorge grundsätzlich nur dann nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG aus, wenn er seine elterliche Verantwortung - in diesem Fall insbesondere das Sorgerecht und die ihm korrespondierende Sorgepflicht - durch einen entsprechenden tatsächlichen Erziehungs- und Betreuungsbeitrag für das Kind tatsächlich aktiv wahrnimmt (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.06.2004 - 13 S 990/04 -, juris, Rn. 7; Zeitler, HTK-AuslR / § 28 AufenthG / zu Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Stand: 18.11.2016, Rn. 16; für § 23 Abs. 1 Nr. 3 AuslG bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 05.08.2002 - 1 S 1381/01 -, juris, Rn. 18). Dies folgt aus dem Zweck der Aufenthaltserlaubnis, die "zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet […] zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes erteilt" wird (§ 27 Abs. 1 AufenthG; vgl. zu diesem Zusammenhang zwischen Ausübung der Personensorge und dem Zweck der Aufenthaltserlaubnis bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 30.11.2001 - 11 S 1700/01 -, juris, Rn. 5; zur allgemeinen Voraussetzung der familiären Lebensgemeinschaft in diesem Zusammenhang Zeitler, HTK-AuslR / § 28 AufenthG / zu Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Stand: 18.11.2016, Rn. 3, und Dienelt, in: Bergmann/ders., Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 28 AufenthG Rn. 26). Der sorgeberechtigte Elternteil muss von seinem Sorgerecht in einer Weise Gebrauch machen, die sich in seinem Verhalten gegenüber dem Kind manifestiert und seinen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlich macht. Er muss auch nach außen hin erkennbar in ausreichendem Maße einen für eine familiäre Lebensgemeinschaft typischen Kernbestand an Verantwortung für die Betreuung und Erziehung seines minderjährigen Kindes übernehmen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 30.11.2001 - 11 S 1700/01 -, juris, Rn. 5, und vom 08.07.1993 - 11 S 855/93 - juris, Rn. 6; Zeitler, HTK-AuslR / § 28 AufenthG / zu Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Stand: 18.11.2016, Rn. 10 f.). [...]

(bb) Für die Ausübung der Personensorge können gerade dann, wenn diese sich - wie hier - nur noch auf einen formalen Restbestand ohne wesentliche inhaltliche Bedeutung beschränkt, keine grundsätzlich anderen Maßstäbe gelten. Systematisch folgt dies schon daraus, dass auch der Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG unter dem Vorbehalt des § 27 Abs. 1 AufenthG steht, dass also auch diese Aufenthaltserlaubnis "zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft […] zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes" erteilt wird und die Ausübung des Personensorgerechts deshalb auf eine familiäre Gemeinschaft gerichtet sein muss (vgl. Marx, in: GK-AufenthG, 89. Lieferung (Juni 2017), § 28 Rn. 101 und 111; für das Verhältnis von § 23 Abs. 1 Nr. 3 und § 17 Abs. 1 AuslG bereits VGH Bad.-Württ., Urteil vom 05.08.2002 - 1 S 1381/01 -, juris, Rn. 19).

Die §§ 1626 ff. BGB stellen seit ihrer Neufassung durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz vom 16. Dezember 1997 (BGBl. I, S. 2942) das Kindeswohl in den Mittelpunkt und anerkennen die Beziehung jedes Elternteils zu seinem Kind als grundsätzlich schutz- und förderungswürdig, so dass die veränderte Bedeutung des Umgangsrechts Auswirkungen auf die Auslegung der §§ 27 ff. AufenthG insgesamt hat (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 56. Aktualisierung (Februar 2008), § 27 AufenthG Rn. 23; für die persönliche Verbundenheit zwischen Kind und Elternteil als Maßstab deshalb ders., Ausländerrecht, Stand: 85. Aktualisierung (April 2014), § 28 AufenthG Rn. 13). Zudem dient die in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG vorgesehene Privilegierung in erster Linie dem Schutz des deutschen Staatsangehörigen, also des Kindes (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 85. Aktualisierung (April 2014), § 28 AufenthG Rn. 8). Dabei üben die Eltern keine Rechte aus, die ihnen um ihrer selbst willen verliehen sind. Sie nehmen vielmehr ihre Elternverantwortung wahr, die ihnen im Interesse des Kindeswohls obliegt (für das Kindeswohl als verfassungsrechtliche Richtschnur "für das gesamte Aufenthaltsrecht" insoweit Dienelt, in: Bergmann/ders., Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 28 AufenthG Rn. 28). Es kommt darauf an, ob zwischen dem Ausländer und seinem Kind auf Grund des gepflegten persönlichen Umgangs ein Eltern-Kind-Verhältnis besteht, das von der nach außen manifestierten Verantwortung für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes geprägt ist (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 05.08.2002 - 1 S 1381/01 -, juris, Rn. 19). [...]