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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 15.08.2019 - 1 C 23.18 - asyl.net: M27652
https://www.asyl.net/rsdb/M27652
Leitsatz:

Erleichterte Voraussetzungen für eigenständiges Aufenthaltsrecht von Kindern nur bei Minderjährigkeit:

1. War eine Person bei Vollendung des 16. Lebensjahres bereits seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, liegt ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis unter den erleichterten Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 S. 1 AufenthG nur bei Minderjährigkeit vor. Mit Eintritt der Volljährigkeit sind die erschwerten Bedingungen des § 35 Abs. 1 S. 2 AufenthG einschlägig.

2. Sichert die Ausländerbehörde bei der Online-Buchung eines Termins zu, die Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 4 S. 3 AufenthG anzuordnen und nimmt die betroffene Person diesen Termin rechtzeitig wahr, kann konkludent in der Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung eine solche Anordnung gesehen werden. Diese wirkt auf den Zeitpunkt des Ablaufs der bisherigen Aufenthaltserlaubnis zurückwirkt, wenn kein Anhaltspunkt besteht, dass eine nennenswert früherer Termin hätte reserviert werden können.

3. Von der Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung ist bei der eigenständigen Aufenthaltserlaubnis von Kindern nach § 34 Abs. 3 AufenthG abzusehen, wenn atypische Umstände vorliegen. Dies kann aus Gründen höherrangigen Rechts, hier insbesondere dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 6, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK, Art. 7 GR-Charta der Fall sein (unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 26.08.2008 - 1 C 32.07 - asyl.net: M14389, BVerwG, Urteil vom 22.05.2012 - 1 C 6.11 - asyl.net: M20008). Dabei muss eine gewichtende Gesamtbewertung der Lebensumstände durchgeführt werden (BVerfG, Beschluss vom 21.02.2011 - 2 BvR 1392/10 (Asylmagazin 2011, S. 264 ff.) - asyl.net: M18524).

(Leitsätze der Redaktion; abweichend von VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.02.2019 - 11 S 1646/18 - asyl.net: M27042,  OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.03.2018 - 12 B 11.17 - asyl.net: M26146)

Schlagwörter: Kindernachzug, Volljährigkeit, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Rechtsgrundlage, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Niederlassungserlaubnis, Fiktionswirkung, Fiktionsbescheinigung, Achtung des Privatlebens, Achtung des Familienlebens, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, minderjährig, Antragstellung, Regelerteilungsvoraussetzungen,
Normen: AufenthG § 35 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 35 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 81 Abs. 4 S. 3, AufenthG § 34 Abs. 3, GG Art. 6, GG Art. 2 Abs. 1, EMRK Art. 8, GR-Charta Art. 7,
Auszüge:

[....]

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, die besondere Privilegierung von Ausländern, die bei Vollendung des 16. Lebensjahres bereits seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug waren, bei der Aufenthaltsverfestigung und weiteren Aufenthaltsgewährung bleibe diesen nach Erreichen der Volljährigkeit erhalten, ist mit § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG unvereinbar (1.). Das Berufungsurteil erweist sich auch weder aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), noch kann der Senat eine abschließende Entscheidung zu Lasten des Klägers treffen. Als volljähriger Ausländer ohne gesicherten Lebensunterhalt kann der Kläger einen (Ermessens-)Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nicht auf § 35 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, sondern nur auf § 34 Abs. 3 AufenthG stützen, auf den die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG uneingeschränkt Anwendung finden. Ein Ermessen ist danach nur eröffnet, wenn von der Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung wegen atypischer Umstände oder (grund- oder menschen-) rechtlicher Grenzen einer Aufenthaltsbeendigung bei im Bundesgebiet verwurzelten Ausländern ausnahmsweise abzusehen ist. [...]

1. Der Kläger kann sein Begehren auf erneute Entscheidung der Ausländerbehörde über seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht auf § 35 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG stützen. [...]

1.2 Die dem Berufungsurteil zugrunde gelegte Rechtsgrundlage für eine Verlängerung - § 35 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 1 i.V.m. § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG - ist im Fall des volljährigen Klägers nicht anwendbar, weil sie die (fortbestehende) Minderjährigkeit des Antragstellers voraussetzt. Der abweichenden Auslegung des Berufungsgerichts, wonach § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur voraussetzt, dass der Ausländer bereits bei Vollendung des 16. Lebensjahres seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war und die daran anknüpfenden Rechte dem Ausländer auch nach Eintritt der Volljährigkeit erhalten bleiben, während § 35 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur für diejenigen volljährigen Ausländer gilt, die die fünfjährige Besitzzeit einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 6. Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes erst zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt haben, folgt der Senat nicht.

a) Nach dem Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist einem minderjährigen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach dem 6. Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er im Zeitpunkt der Vollendung seines 16. Lebensjahres seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist und kein (dem gebundenen Anspruch entgegenstehender) Ausschlussgrund vorliegt. [...]

b) Die Systematik der Norm bestätigt, dass sich die Abgrenzung der Anwendungsbereiche des § 35 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AufenthG nach dem Alter des Ausländers und nicht (allein) danach richtet, ob die fünfjährige Besitzdauer einer Aufenthaltserlaubnis schon bei Vollendung des 16. Lebensjahres oder erst später erfüllt worden ist. [...]

Auch § 35 AufenthG privilegiert in Bezug auf das unbefristete Aufenthaltsrecht nachgezogener oder hier geborener Kinder Minderjährige gegenüber Volljährigen (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 und 2 Halbs. 1 AufenthG). [...]

c) Dass diese Privilegierung - weitergehend - auf inzwischen volljährige Kinder, die bei Vollendung des 16. Lebensjahres fünf Jahre im Besitz der Aufenthaltserlaubnis waren, hätte erstreckt werden sollen, ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit weder aus den Gesetzesmaterialien noch aus dem danach verfolgten Sinn und Zweck der Privilegierung. [...]

d) Ein über den Wortlaut hinausgehender Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 Satz 1 AufenthG lässt sich auch aus einer Kontinuität zur Vorgängernorm des Ausländergesetzes (§ 26 AuslG 1990) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des VGH Mannheim (Beschlüsse vom 10. Februar 1993 - 11 S 2532/92 - juris und vom 21. November 2001 - 13 S 1635/01 - juris) nicht herleiten (a.A. etwa Diesterhöft, HTK-AuslR, § 35 AufenthG - zu Abs. 1 Satz 1 Rn. 5 ff.; VGH Mannheim, Beschluss vom 5. Februar 2019 - 11 S 1646/18 - InfAuslR 2019, 189). [...]

Über den Antrag des volljährigen Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ist nach § 34 Abs. 3 AufenthG zu entscheiden. [...]

Zwar stellt die Buchung eines Termins bei der Ausländerbehörde über eine Online-Terminvereinbarung keine Beantragung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels dar (zutreffend Samel, in: Bergman/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 81 AufenthG Rn. 9; VG Berlin, Beschluss vom 30. September 2014 - 30 L 246.14 - juris Rn. 17 m.w.N.). Mit dem praktizierten Verfahren der Online-Terminvereinbarung will der Beklagte dem Umstand Rechnung tragen, dass aus organisatorischen Gründen nicht immer zeitnahe Termine vergeben werden können, und zugleich daraus entstehende Rechtsnachteile für den Ausländer vermeiden. Dafür kann er sich auf die mit Wirkung vom 1. August 2012 geschaffene Regelung des § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG (BGBl. I S. 1224) stützen, wonach die Ausländerbehörde zur Vermeidung einer unbilligen Härte die Fortgeltungswirkung eines verspätet gestellten Verlängerungsantrags anordnen kann. Der erwähnte, bei Terminbuchung erteilte Hinweis enthält der Sache nach die Zusicherung, die Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG anzuordnen, sofern im rechtzeitig reservierten Vorsprachetermin ein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gestellt wird (siehe auch VG Berlin, Beschluss vom 24. November 2015 - 19 L 302.15 - juris Rn. 20). In diesem Fall einer vorangegangenen Zusicherung kann in der Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG) bei Antragstellung eine konkludente Anordnung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG gesehen werden; diese wirkt auf den Zeitpunkt des Ablaufs der bisherigen Aufenthaltserlaubnis zurück. Die im Gesetz vorausgesetzte unbillige Härte ist in derartigen Fällen jedenfalls dann gegeben, wenn kein Anhalt dafür besteht, dass der Antragsteller bei der Terminvereinbarung einen nennenswert früheren Termin hätte reservieren können und er seine Antragstellung damit missbräuchlich hinausgezögert hätte (vgl. dazu VG Berlin, Beschluss vom 30. September 2014 - 30 L 246.14 - juris Rn. 19). [...]

2.3 Wegen des ungesicherten Lebensunterhalts fehlt es für eine Ermessensentscheidung nach § 34 Abs. 3 AufenthG an der - regelmäßig erforderlichen - allgemeinen Erteilungsvoraussetzung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Von der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts ist allerdings bei Vorliegen eines Ausnahmefalles abzusehen. Ein solcher Ausnahmefall liegt bei besonderen, atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 oder Art. 2 Abs. 1 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 Grundrechte-Charta (GRC) die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis geboten ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 - BVerwGE 131, 370 Rn. 27 und vom 22. Mai 2012 - 1 C 6.11 - BVerwGE 143, 150 Rn. 11 m.w.N.). [...]

Erforderlich ist eine gewichtende Gesamtbewertung seiner Lebensumstände, in die sowohl die für eine Verwurzelung als auch die für eine Entwurzelung in Serbien sprechenden Umstände, die zuvor hinreichend aufzuklären sind, eingestellt werden (vgl. auch insoweit BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 - NVwZ-RR 2011, 420 = juris Rn. 20 f.). [...]