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OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25.07.2019 - 4 LB 12/17 - asyl.net: M27725
https://www.asyl.net/rsdb/M27725
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für einen in Bulgarien schutzberechtigten jungen Mann:

Für als schutzberechtigt Anerkannte, die nach Bulgarien überstellt werden, ist derzeit nicht von einer Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Verstoß gegen das Verbot aus Art. 3 EMRK/ Art. 4 GRC führen und einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründen würde.

(Leitsätze der Redaktion, in Abkehr zu früherer Rechtsprechung: OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.05.2018 - 4 LB 17/17 - asyl.net: M26459 und OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.05.2018 - 4 LB 27/17 - asyl.net: M26460)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Drittstaatenregelung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

62 (7) Unter Zusammenfassung der (unter (2) – (6) dargestellten) rechtlichen Vorgaben und der (alten und neuen) Rechtsprechung ist also eine im Sinne des Art. 3 EMRK/ Art. 4 GRC erhebliche Funktionsstörung im Asylsystem nach Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedsstaat zu bejahen, wenn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass der Schutzberechtigte in diesem Staat wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse (wie z. B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme, Hygienebedürfnisse und medizinische Grundversorgung) – im Unterschied zu den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats – nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann und der betreffende Mitgliedstaat dem mit Gleichgültigkeit begegnet, weil er auf die gravierende Mangel- und Notsituation nicht mit (geeigneten) Maßnahmen reagiert, obwohl der Schutzberechtigte sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde nicht vereinbar ist (vgl. Urteil des Senats vom 24.05.2018 – 4 LB 27/17 –, Rn. 54 ff, juris, mit Verweis auf EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 –, NVwZ 2011, 413, 416, Rn. 253 m.w.N., und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 –, NVwZ 2015, 127, 130, Rn. 98; speziell zu anerkannt Schutzberechtigten: OVG Lüneburg, Urteil vom 29.01.2018 – 10 LB 82/17 –, Rn. 32, juris, und OVG Saarlouis, Urteil vom 19.04.2018 – 2 A 737/17 –, Rn. 19, juris). Es müsste unabhängig von persönlichen Entscheidungen des Betroffenen eine extreme materielle Not eintreten, die es nicht erlaubt, die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren und zu waschen (VGH Mannheim, Urteil vom 29.07.2019 – A 4 S 749/19 –, Rn. 40, juris; dort formuliert als Anspruch auf "Bett, Brot, Seife"). [...]

68 (8) Gemessen an diesen Maßstäben ist für Bulgarien unter Berücksichtigung der in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismitteln derzeit nicht von einer entsprechenden Gefahrenlage für anerkannt Schutzberechtigte auszugehen, die zu einem Verstoß gegen das Verbot aus Art. 3 EMRK/ Art. 4 GRC führen und einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründen würde.

69 Der Senat hält insoweit nicht mehr an seiner Rechtsprechung aus dem Urteilen vom 24.05.2019 (4 LB 27/17 und 4 LB 17/17 – veröffentlicht unter juris) fest, die auf Grundlage der damaligen Rechtsprechungs- und Erkenntnislage ergangen ist. Die Behandlung international Schutzberechtigter in Bulgarien entspricht derzeit (noch) den europarechtlichen Anforderungen, entscheidungserhebliche systemische Mängel in Rechtssystem oder Vollzugspraxis sind nicht ersichtlich.

70 Im Einzelnen:

71 aa) Status anerkannt Schutzberechtigter, allgemeine Situation

72 Grundsätzlich haben Personen, die von Bulgarien als Flüchtlinge anerkannt wurden, dort die gleichen Rechte wie bulgarische Staatsbürger; Personen mit subsidiärem Schutzstatuts haben dieselben Rechte wie Daueraufenthaltsberechtigte, Art. 32 Abs. 1 und 2 des bulgarischen Asyl-/Flüchtlingsgesetz (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 18; AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 69; BAMF: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, Stand Mai 2019, S. 2). [...]

81 bb) Integrationsbemühungen durch staatliche Stellen und Nichtregierungsorganisationen

82 Die Erkenntnismittel berichten nahezu einhellig von dem – seit Jahren bestehenden – staatlichen Status der "Nullintegration" ("zero-integration") (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 18; AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S 69).

83 Nach dem Scheitern zweier Integrationsverordnungen in 2016 und 2017 in der Praxis sei zwar im Juli 2017 die aktuelle Integrationsverordnung in Kraft getreten. Diese sieht als zentrales Element einen Vertragsabschluss zwischen einem Flüchtling/ subsidiär Schutzberechtigten mit einer bulgarischen Gemeinde für ein Jahr vor, der um ein weiteres Jahr verlängerbar ist. In diesem vereinbaren beide Seiten als Ziel die Integration des Schutzberechtigten in die Gemeinde, wofür Unterstützung und Beratung vom Zentralstaat (fakultativ auch von Nichtregierungsorganisationen, Arbeitgeber-/-nehmerorganisationen und Handwerkskammer) genutzt werden sollen. Weitere Regelungsbereiche betreffen Unterstützung und Beratung bzgl. Arbeit, Wohnung, medizinischer Versorgung, Sozialhilfe, Schulbesuch, Sprachkurse (siehe hierzu den Text der Verordnung in der Auskunft der Deutschen Botschaft Sofia an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018, S. 3 ff.). [...]

90 Integrationsarbeit wird damit de facto nach wie vor nur von Nichtregierungsorganisationen geleistet, wobei in den Erkenntnismitteln v. a. auf die Aktivitäten des Bulgarischen Roten Kreuzes und der Caritas hingewiesen wird (z. B. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 21; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Weimar vom 18.07.2018 (3 KO 337/17), S. 3; BAMF: Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 11; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Lüneburg vom 18.07.2018 (2 LB 212/16), S. 4 f.; siehe auch die Übersicht von Caritas Bulgaria: The Bulgarian Migration Paradox – migration and development in Bulgaria, Stand Mai 2019, S. 43). Diese leisteten in verschieden Projekten und Programmen diverse Unterstützung – z. B. Begleitung, Beratung in Ämterangelegenheiten, Nachhilfe für Schulkinder, Hilfe bei Wohnungs- und Arbeitssuche, Sprachkurse u.a.. [...]

96 cc) Unterkunft

97 Nach übereinstimmender Auskunft aktueller Erkenntnismittel haben anerkannt Schutzberechtigte nach Statuszuerkennung einen gesetzlichen Anspruch auf finanzielle Unterstützung für eine Unterkunft für 6 Monate (AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 76; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Weimar vom 18.07.2018 (3 KO 337/17), S. 2), wobei dieser Anspruch de facto nicht erfüllt wird. Deshalb hat sich die Praxis etabliert, auch Schutzberechtigten – ggf. auf Antrag – die Möglichkeit zu geben, in der Flüchtlingsunterkunft/ im Aufnahmezentrum zu bleiben, in dem sie bereits während des Asylverfahrens wohnhaft waren (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 19; AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S 76. ; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Weimar vom 18.07.2018 (3 KO 337/17), S. 2; BAMF: Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8). Die Dauer des Aufenthalts hängt dabei von der Belegungsrate der Zentren und der spezifischen Schutzbedürftigkeit des Betroffenen ab (BAMF: Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8). Da die staatlichen Flüchtlingsunterkünfte momentan nicht ausgelastet seien (Stand Ende 2018: von 4.760 Plätzen waren 444 belegt; zum 30.04.2019 6,8 % Belegungsquote, BAMF: Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien, Stand Mai 2019, S. 3), sei eine solche Unterbringung durchaus möglich. Ende 2018 sollen von dieser Möglichkeit 29 Personen Gebrauch gemacht haben (AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 76). Nach dem bulgarischen Innenministerium sei diese Zahl weiter rückläufig.

98 Diese Möglichkeit besteht aber nach übereinstimmender Auskunftslage nicht für Rückkehrer oder sonstige anerkannte Flüchtlinge, die ihre Unterkunft nach Statuszuerkennung verlassen haben (BAMF: Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018 (7 K 14370/17.TR), S. 2; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Lüneburg vom 18.07.2018 (2 LB 212/16), S. 8). Anerkannte Schutzberechtigte haben in diesen Fällen aber Zugang zu Leistungen gemäß Art. 36 und Art. 40 der Vorschrift für die Anwendung des Gesetzes für soziale Unterstützung. Hierzu gehört die Inanspruchnahme von einem der 12 "Zentren für temporäre Unterbringung" (Gesamtkapazität: 607 Plätze), die auch soziale Beratung und Unterstützung anbieten. Die Unterbringung ist für maximal drei Monate innerhalb eines Jahres möglich. Daneben gibt es in Sofia zwei kommunale "Krisenzentren" für die Unterbringung von Bedürftigen während der Wintermonate mit einer Gesamtkapazität von 170 Plätzen (zu alldem: BAMF: Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 9; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018 (7 K 14370/17.TR), S. 2).

99 Ein mit der Schwierigkeit der Unterkunftssuche einhergehendes Problem ist offensichtlich die Registrierung unter einer Meldeadresse. Diese ist Voraussetzung für zahlreiche staatliche Leistungen (Erhalt von Identitätsdokumenten, Abschluss eines Mietvertrages, Abschluss einer Krankenversicherung, siehe auch unter dd) Sozialhilfe). Die bulgarische Flüchtlingsagentur SAR lässt nach Auskunft der AIDA seit 2016 nicht mehr zu, dass die Adressen der Aufnahmezentren als Meldeadresse angegeben werden (zu alldem: AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 77) – zumindest besteht hierfür nach Auskunft des UNHCR keine Gewähr mehr. Nach Informationen des BAMF (Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2017, S. 3) können aber die temporären Unterkünfte als Meldeadressen genutzt werden.

100 Die Erschwernisse bei der Registrierung unter einer Meldeadresse führten zu einem Teufelskreis ("catch 22") bei der Wohnungssuche, da gültige ID-Dokumente Voraussetzung für den Erhalt eines Mietvertrages seien, gültige ID-Dokumente aber nur mit einer Meldeadresse zu erhalten seien. Dies führe zu korrupten Praktiken wie gefälschten Mietverträgen und falscher Adressregistrierung (AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 70). [...]

105 Am ehesten von Obdachlosigkeit bedroht sind nach einhelliger Auskunftslage Frauen und Familien mit kleinen Kindern (BAMF: Länderinformation Bulgarien, Stand Mai 2018, S. 8; Dr. Valeria Ilareva: Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das OVG Lüneburg zum Az. 2 LB 212/16 vom 07.04.2017, S. 9).

106 dd) Sozialhilfe

107 Das Gesetz sieht für anerkannt Schutzberechtigte grundsätzlich den gleichen Zugang zu Sozialleistungen vor wie für bulgarische Staatsbürger (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 19; AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 77; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Weimar vom 18.07.2018 (3 KO 337/17), S. 2; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Lüneburg vom 18.07.2018 (2 LB 212/16), S. 7). Die Voraussetzungen hierfür seien aber – wie für bulgarische Staatsbürger – kaum zu erfüllen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018 (7 K 14370/17.TR), S. 3). Die überwältigende Bürokratie und andere Formalitäten im Zusammenhang mit der Einreichung von Sozialhilfeanträgen sei selbst für Staatsangehörige schwer zu überwinden und für Personen, die internationalen Schutz genießen, fast unmöglich, sofern sie nicht unterstützt würden. Diese Art der Unterstützung wird ausschließlich von Nichtregierungsorganisationen geleistet und ist daher nicht immer verfügbar (zu alldem: AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 70). Die Gewährung von Sozialhilfe ist an das Vorhandensein einer Meldeadresse gebunden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 19), die mitunter nicht erhältlich ist (s. o.). [...]

110 ee) Erwerbsmöglichkeiten

111 Der Zugang zu Arbeitsmarkt und Bildung erfolgt für anerkannt Schutzberechtigte wie für Inländer automatisch und bedingungslos (z. B. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Lüneburg vom 18.07.2018 (2 LB 212/16), S. 6). Sprachbarriere und die allgemein schlechte sozioökonomische Lage seien übliche Probleme (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017; UNHCR, S. 20: "Where there is a will, there is a way; private sector engagement in the employment of beneficiaries of international protection" (Stand 26.04.2017), S. 11), ebenso wie der damit einhergehende Mangel an Fortbildungsangeboten und Möglichkeiten der Anerkennung ausländischer Berufserfahrung (AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 76; UNHCR: "Where there is a will, there is a way; private sector engagement in the employment of beneficiaries of international protection" (Stand 26.04.2017), S. 11; siehe auch: Caritas Bulgaria: The Bulgarian Migration Paradox – migration and development in Bulgaria, Stand Mai 2019, S. 32).

112 Die Vermittlung von Arbeitsplätzen über die staatliche Agentur für Arbeit wird hauptsächlich aufgrund sprachlicher Barrieren als eher gering eingeschätzt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018 (7 K 14370/17.TR), S. 3; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Lüneburg vom 18.07.2018 (2 LB 212/16), S. 6). Die Agentur schätzt die Einbindung von international Schutzberechtigten in den Arbeitsmarkt selbst als unbefriedigend ein (Dr. Valeria Ilareva: Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das OVG Lüneburg zum Az. 2 LB 212/16 vom 07.04.2017, S. 6). [...]

114 Zum Teil wird das Vorhandensein einer Meldeadresse als Voraussetzung für die Arbeitsvermittlung benannt (AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 70) – andere Quellen geben hingegen an, dass das Fehlen einer solchen Adresse scheinbar unschädlich sei (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018 (7 K 14370/17.TR), S. 3). [...]

121 Das UNHCR berichtet unter Bezugnahme auf Angaben Bulgariens von wenigen hundert anerkannt Schutzberechtigten, die in 2016 einen Arbeitsvertrag gehabt hätten. Darüber hinaus berichte die Caritas, dass etwa 60 % der Asylbewerber und anerkannt Schutzberechtigten ohne Vertrag arbeiteten (UNHCR: "Where there is a will, there is a way; private sector engagement in the employment of beneficiaries of international protection" (Stand 26.04.2017), S. 8 f.). [...]

123 ff) Medizinische Versorgung

124 Nach übereinstimmenden Aussagen aller verfügbaren aktuellen Erkenntnismittel ist in Bulgarien eine kostenfreie medizinische Notfallversorgung für alle anerkannt Schutzberechtigten ebenso wie für bulgarische Staatsbürger gewährleistet (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Weimar vom 18.07.2018 (3 KO 337/17), S. 2; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Trier vom 26.04.2018 (7 K 14370/17.TR), S. 4). Es sind auch keine Fälle bekannt, in denen eine solche verweigert wurde und hieraus ernsthafte Schäden an Leib oder Leben des Betroffenen resultierten (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Lüneburg vom 18.07.2018 (2 LB 212/16), S. 10; Dr. Valeria Ilareva: Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien (Auskunft an das OVG Lüneburg zum Az. 2 LB 212/16) vom 07.04.2017, S. 11).

125 Anerkannt Schutzberechtigte müssen sich darüber hinaus – wie bulgarische Staatsbürger – auf eigene Kosten krankenversichern (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 20; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Lüneburg vom 18.07.2018 (2 LB 212/16), S. 9), wobei sich die Kosten nach der aktuellsten Auskunft auf mindestens 20,40 BGN/ 10,46 € pro Monat belaufen (AIDA: Country Report Bulgaria, Stand 31.12.2018, S. 77). Angesichts einer Zahl von rund einer Millionenen Menschen, die in Bulgarien ohne angemessene Krankenversicherung sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 21), ist davon auszugehen, dass das etwaige Problem der mangelnden Finanzierbarkeit einer Krankenversicherung nicht nur/ überwiegend anerkannt Schutzberechtigte betrifft, sondern – angesichts der Vielzahl Betroffener – auch einen nicht unerheblichen Teil der bulgarischen Staatsangehörigen. Leistungen müssen zusätzlich mit sog. "out-of-pocket" Zahlungen erkauft werden, die 2013 rund 97% der privaten Gesundheitsausgaben ausmachten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 20). Es besteht unbeschränkter Zugang zu (teilweise erstattungsfähigen) Medikamenten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand 31.12.2017, S. 20). In mehreren Auskünften wird berichtet, dass Hausärzte – aus verschiedenen Gründen – eher davon Abstand nehmen, anerkannt Schutzberechtigte zu behandeln (unter Bezugnahme auf das UNHCR: Dr. Valeria Ilareva: Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannt Schutzberechtigter in Bulgarien, Auskunft an das OVG Lüneburg zum Az. 2 LB 212/16 vom 07.04.2017, S. 10).

126 (9) Weder unter Berücksichtigung der einzelnen noch in der Gesamtschau der offenbar vorliegenden Missstände ergibt sich, dass hinreichend Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass anerkannt schutzberechtigte Personen in Bulgarien mit einer EMRK-widrigen Behandlung rechnen müssen.

127 Vielmehr kann nach o. g. Maßstäben weder vom Vorliegen systemischer Schwachstellen im Sinne der sog. Dublin-III-Verordnung ausgegangen werden noch ist zur Überzeugung des Senats die in den Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Union ("Jawo" und "Ibrahim") präzisierte besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit für eine menschenunwürdige Behandlung nach Art. 3 EMRK/ Art. 4 GRC erreicht (so im Ergebnis auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19, veröffentlicht bei juris). Dies gilt zumindest für arbeitsfähige, alleinstehende gesunde Männer wie den Kläger.

128 Unzweifelhaft stellt sich die Situation für anerkannt Schutzberechtigte schwierig – v.a. ungleich schwieriger als in Deutschland – dar, da es an staatlichen Integrationsprogrammen fehlt, rechtliche Vorgaben z. T. nur unzureichend umgesetzt werden oder staatliche Leistungen wegen hoher praktischer Hürden kaum zu erhalten sind. In Konsequenz daraus – sowie aus der allgemein schlechten sozioökonomischen Lage in Bulgarien – sehen sich anerkannt Schutzberechtigte auch hohen Hürden bei Wohnungs- und Arbeitssuche gegenüber. Hierbei sind sie aber grundsätzlich nicht schlechter gestellt als bulgarische Staatsangehörige, für die nach der Auskunftslage Sozialleistungen, Wohnraum, Krankenversicherungsschutz und Arbeit z. T. ebenso schwer zu erreichen sind. [...]

132 Es ist weder den gesetzlichen Regelungen noch der einschlägigen Rechtsprechung zu entnehmen, dass es darauf ankommt, von wem eine ggf. drohende Verletzung des Art. 3 EMRK/ Art. 4 GRC abgewendet wird, solange eine solche Verletzung tatsächlich nicht mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht.

133 Konkrete Erkenntnisse darüber, dass eine große Anzahl anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien Hunger, Entbehrung oder Obdachlosigkeit leidet, lässt sich gerade keinem Erkenntnismittel entnehmen (z. B. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Lüneburg vom 18.07.2018 (2 LB 212/16), S. 8) – auch dies spricht gegen die Annahme systemischer Mängel. [...]

135 Weil Bulgarien aber im Vergleich zu Deutschland nicht über ein ausdifferenziertes Sozialsystem verfügt, muss im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verlangt werden, dass der jeweilige Schutzberechtigte grundsätzlich auch Willens (und in der Lage) ist, sich den Bedingungen zu stellen und seine Integration durch eine hohe Eigeninitiative und -verantwortung zu fördern. Dabei ist er auch gehalten, die mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte und Vorteile ggf. unter Zuhilfenahme der Gerichte von dem Mitgliedstaat einzufordern, der mit seiner Flüchtlingsanerkennung die Verantwortung für die Gewährung internationalen Schutzes übernommen hat (BVerwG, Vorlagebeschluss vom 02.08.2017 – 1 C 2.17 –, Rn. 22, juris).

136 Ein von dem eigenen Willen des arbeitsfähigen und gesunden anerkannt Schutzberechtigten unabhängigen "Automatismus der Verelendung" bei Rückkehr nach Bulgarien lässt sich nicht mit der erforder - lichen Gewissheit feststellen. Die realistischer Weise zu besorgende (massive) Verschlechterung der – auch wirtschaftlichen – Situation des Betroffenen in Bulgarien ist vor dem dargestellten Hintergrund zumutbar und rechtlich tolerierbar. [...]