VG Oldenburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 29.04.2020 - 12 A 6134/17 - asyl.net: M28562
https://www.asyl.net/rsdb/M28562
Leitsatz:

Abschiebung von anerkannten Schutzberechtigten nach Bulgarien unzulässig:

1. In Bulgarien anerkannten Schutzberechtigten droht bei einer Abschiebung grundsätzlich die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung gemäß Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK. Die Sicherung des Existenzminimums ist faktisch nicht gewährleistet (anschließend an OVG Niedersachen, Urteil vom 29.01.2018 - 10 LB 82/17 - asyl.net: M25927; entgegen OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.08.2018 - 3 L 50/17 - asyl.net: M26564) .

2. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der durch den EuGH in der jüngeren Rechtsprechung konkretisierten Maßstäbe für eine Verletzung von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK (Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17 - Ibrahim u.a. - asylnet: M27127 und Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 - Jawo gg. Deutschland - asyl.net: M27096).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Anerkannte, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Lebensbedingungen, Existenzminimum, Obdachlosigkeit, Kinder, existentielle Notlage, Aufnahmebedingungen, internationaler Schutz in EU-Staat, medizinische Versorgung, Unterbringung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 31 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Der Bescheid des Bundesamtes vom 9. August 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. [...]

Vorliegend sind zwar die Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfüllt, da den Klägern laut Mitteilung der bulgarischen Behörden vom 6. Februar 2015 dort am 31. Januar 2014 subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei. Das Bundesamt durfte den Asylantrag der Kläger aber gleichwohl nicht als unzulässig ablehnen, weil ernsthaft zu befürchten ist, dass sie bei einer Überstellung nach Bulgarien der Gefahr einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung gem. Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt wären.

Für die Annahme einer solchen Gefahr gilt, dass allein der Umstand, dass eine Person, der in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedsstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaates behandelt zu werden, nur dann zu der Feststellung führen kann, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich der Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihm nicht erlaubte, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, - wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden -, und seine physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 -, juris).

Nach diesen Maßstäben ist nach Auswertung und Würdigung der zur Verfügung stehenden Berichte und Stellungnahmen anzunehmen, dass den Klägern im Falle ihrer Rückführung nach Bulgarien die konkrete Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung und mithin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht. [...]

Vor diesem Hintergrund geht das Gericht weiterhin davon aus, dass es anerkannt Schutzberechtigten grds. nicht möglich ist, ihr Existenzminimum selbst zu erwirtschaften. Mangels staatlicher Hilfe und auch anderer Hilfsmöglichkeiten (durch NGOs) besteht daher die ernsthafte Gefahr der Obdachlosigkeit (so auch Raphaelsewrk a.a.O., S. 10; Rosa Luxemburg Stiftung a.a.O., S. 1 und 4) und des Absinkens unter die Armutsgrenze und damit die Gefahr der Verelendung.

Das Gericht hält die Einschätzung des Nds. OVG auch angesichts der Entscheidungen des EuGH vom 19. März 2019 (C-163/17 und C-297/17, beide juris) nicht für überholt. Dort sind die Kriterien und Maßstäbe für das Vorliegen einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh bzw. Art 3 EMRK - Vorliegen einer extremen Notsituation - nach Auffassung des Gerichts nicht verschärft worden (in diese Richtung VGH Bad.-Württ., der von einer neuen "harten Linie" spricht, vgl. Beschluss vom 27. Mai 2019 - A 4 S 1329/19 - und Beschluss vom 22. Oktober 2019 - A 4 S 2476/19 -, beide juris). Der EuGH hat lediglich im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - (M.S.S.), EGRZ 2011 , 243 und Beschluss vom 2. April 2013 - 27725/10 - Mohammed Hussein u.a. gegen die Niederlande und Italien, ZAR 2013, S. 336 u. juris) die strengen Anforderungen nochmals komprimiert dargestellt und konkretisiert. Auch der EGMR hatte bereits entschieden, dass die Vertragsstaaten nicht verpflichtet seien, den Flüchtlingen einen bestimmten Lebensstandard zu bieten und darauf hingewiesen, dass sie diese nicht mit einer Wohnung versorgen oder finanzielle Unterstützung leisten müssten.

Unzumutbare Zustände in Bulgarien in diesem Sinne nehmen - neben dem Nds. OVG (s.o.) - auch das OVG Saarland (Urteil vom 19. April 2018 - 2 A 737/17 -, juris) und der Hess. VGH (Beschluss vom 13. September 2018 - 3 B 1712/18.A -, juris) an.

Einige Gerichte bejahen die Verletzung von Art. 4 EU-GRCh für besonders verletzliche anerkannt Schutzberechtigte (OVG Thüringen, Urteil vom 21. Dezember 2018 - 3 KO 337/17 -; VG Köln , Urteil vom 26. September 2019 - 20 K 14819/17.A -; VG Magdeburg, Urteil vom 14. Oktober 2019 - 8 A 44/19 -).

Der entgegenstehenden Rechtsprechung (vgl. insbes. VGH Bad.-Würt., Beschluss vom 27. Mai 2019 - A 4 S 1329/19 - und Beschluss vom 22. Oktober 2019 - A 4 S 2476/19 -; VG Cottbus, Urteil vom 13. Juni 2019 - 5 K 1696/14.A -; VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 7. Mai 2019 - 10 A 628/18 -; VG Lüneburg, Beschluss vom 12. Dezember 2019 - 8 B 180/19 -; OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, alle juris) folgt das Gericht nicht. Vielmehr bewertet es die vorliegenden Erkenntnismittel in der oben dargestellten Weise. Das gilt insbesondere für die Frage der Erlangung einer Unterkunft, eines Arbeitsplatzes und die selbstständige Sicherung des Existenzminimums. Soweit es um die Unterkunftsfrage geht, hält es die in den entgegenstehenden Entscheidungen genannten Erkenntnismitteln erwähnte Möglichkeit, zeitweise in Obdachlosenunterkünften unterzukommen (12 Zentren für temporäre Unterbringung, 2 Krisenzentren für den Winter in Sofia), nicht für geeignet, die ernsthafte Gefahr einer (dauerhaften) Obdachlosigkeit zu bannen (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2018 - 10 LB 82/17 -, Rn 38, juris - welches zudem für zweifelhaft hält, ob diese Unterkünfte auch rücküberstellten anerkannt Schutzberechtigten und nicht nur bulgarischen Staatsangehörigen offenstehen), weil es - anders als diese Gerichte - nicht von der realen Chance auf einen Arbeitsplatz (nach einer gewissen Anlaufzeit) und damit auf eine dauerhafte selbständige Sicherung des Existenzminimums ausgeht. Soweit in der oben zitierten Rechtsprechung auf eine Verbesserung der Wirtschaftslage in Bulgarien abgestellt wird, zeigen die vorliegenden Erkenntnismittel nicht, dass dies zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation für Flüchtlinge/Schutzberechtigte geführt hat. Insbesondere die bereits genannte Auskunft der Botschaft Sofia vom 1. März 2018 rechtfertigt - wie oben ausgeführt - eine andere Beurteilung nicht, da es sich insoweit um prognostische Überlegungen handelt und Erkenntnismittel, aus denen entnommen werden kann, dass sich insoweit eine nachhaltige Verbesserung ergeben hat, nicht vorliegen. Auch der Umstand, dass nunmehr eine sehr viel geringere Zahl von Flüchtlingen in das Land kommt, als bis zum Jahr 2017, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn allein hieraus kann nicht geschlossen werden, dass sich die in den vorherigen Jahren bestehende Situation nachhaltig verbessert hat. Nachvollziehbare und aussagekräftige Berichte über eine Verbesserung der Lebensumstände ergeben sich aus den aktuellen Erkenntnismittel nicht. In diesen ist vielmehr nach wie vor die Rede davon, dass die Erlangung von Hilfe, eines Arbeitsplatzes zur Sicherstellung des Existenzminimums oder der Gesundheitsversorgung kaum bis gar nicht möglich sei, mithin nach wie vor die ernsthafte Gefahr der Obdachlosigkeit oder Verarmung bestehe. [...]