VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 31.03.2022 - A 12 K 1140/20 - asyl.net: M30726
https://www.asyl.net/rsdb/m30726
Leitsatz:

Keine Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft wegen vermeintlich falscher Angaben zur eritreischen bzw. äthiopischen Staatsangehörigkeit:

1. Beabsichtigt das BAMF die Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 Abs. 2 AsylG, trägt es die Beweislast dafür, dass diese aufgrund unrichtiger Tatsachen oder des Verschweigens wesentlicher Tatsachen (hier: das Nichtbestehen der eritreischen bzw. das Bestehen der äthiopischen Staatsangehörigkeit) zuerkannt wurde.

2. Das äthiopische Staatsangehörigkeitsrecht lässt keine doppelte Staatsangehörigkeit für volljährige Personen zu. Zwar behält eine Person bis zu ihrer Volljährigkeit beide Staatsbürgerschaften. Gibt eine Person ihre weitere Staatsbürgerschaft jedoch nicht mit Volljährigkeit ab, wird von Gesetztes wegen unterstellt, dass auf die äthiopische Staatsangehörigkeit verzichtet wird.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht wohl: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.06.2020 - 19 A 1420/19.A - asyl.net: M28656; VG Berlin, Urteil vom 01.12.2022 - 28 K 330.17 A - asyl.net: M31188; siehe auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.05.2021 - 19 A 177/21.A - asyl.net: M29951)

Schlagwörter: Eritrea, Äthiopien, Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeitsrecht, doppelte Staatsangehörigkeit, Beweislast, Mitwirkungpflicht, Rücknahme, Rücknahmebescheid, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 73 Abs. 2 S. 2, AsylG § 3 Abs. 1
Auszüge:

[...]

b. Hingegen erweist sich die Rücknahmeentscheidung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids nach Überzeugung des Gerichts als materiell rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 73 Abs.2 AsylG nicht vorliegen. Nach § 73 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist die Anerkennung als Asylberechtigter zurückzunehmen, wenn sie auf Grund unrichtiger Angaben oder infolge Verschweigens wesentlicher Tatsachen erteilt worden ist und der Ausländer auch aus anderen Gründen nicht anerkannt werden könnte. [...]

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesamt weder den Nachweis der fehlenden eritreischen Staatsangehörigkeit als objektiv unrichtige Tatsache zu führen vermocht (dazu unter aa.), noch den Nachweis des Vorliegens der äthiopischen Staatsangehörigkeit des Klägers, als Nichtangabe wesentlicher Tatsachen (dazu unter bb.). [...]

Der Kläger selbst macht geltend, eritreischer Staatsangehöriger zu sein, wobei er dies im Wesentlichen mit einer eritreischen Staatsangehörigkeit seines Vaters begründet.

Unter Berücksichtigung der eingeführten Erkenntnismittel und nach Gesamtbild des Vorbringens des Klägers erscheint dies möglich.

Die Frage der Staatsangehörigkeit einer Person bestimmt sich in erster Linie nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der betreffenden Staaten und ihrer Umsetzung in der Rechtspraxis [...].

In Eritrea ergibt sich die hier maßgebliche staatsangehörigkeitsrechtliche Rechtslage aus der Eritreischen Staatsangehörigkeitsverordnung Nr. 21/1992, die nach ihrem Art. 13 am Tag ihrer Veröffentlichung (6. April 1992) in Kraft treten sollte bzw. am 24. Mai 1993, dem Tag der (völkerrechtlich anerkannten) Unabhängigkeitserklärung Eritreas, in Kraft trat [...]. Nach Art. 2 Abs. 5 der Verordnung besitzt jede Person die eritreische Staatsangehörigkeit durch Geburt, deren Vater oder Mutter eritreischer Abstammung ist, unabhängig davon, ob der Wohnsitz in Eritrea oder außerhalb liegt. Den Begriff "eritreischer Abstammung" regelt Art. 2 Abs. 2. Danach ist eritreischer Abstammung, wer 1933 seinen Aufenthalt in Eritrea hatte. [...]

Nach dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 müssen Vater oder Mutter zwingend selbst "eritreischer Abstammung" i.S.v. Art. 2 Abs. 2 sein bzw. 1933 ihren Aufenthalt in Eritrea gehabt haben, um ihrem Kind die eritreische Staatsangehörigkeit kraft Geburt zu vermitteln. Insoweit ist dem Bundesamt zuzugeben, dass Kinder von gebürtigen Eritreern im Sinne von Art. 2 Abs. 1 vom Wortlaut der Verordnung nicht erfasst sind. Dem Sinn und Zweck nach ist Art. 2 Abs. 1 der Verordnung jedoch so auszulegen, dass in Fällen, in denen die Eltern der in Rede stehenden Person im Jahr 1933 noch gar nicht lebten, es wiederum ausreichen muss, wenn jedenfalls die Vorfahren von Vater oder Mutter "eritreischer Abstammung" im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Verordnung sind [...]. Andernfalls könnte eine Person, deren Eltern nach 1933 geboren wurden, niemals die eritreische Staatsangehörigkeit kraft Geburt erlangen. [...]

Vor diesem Hintergrund erscheint es möglich, dass der Kläger seinem Vortrag entsprechend die eritreische Staatsangehörigkeit in Ableitung von seinem Vater erhalten hat.

Der Kläger ist nach der Unabhängigkeit Eritreas geboren und konnte damit bereits im Zeitpunkt seiner Geburt die eritreische Staatsangehörigkeit erwerben. Er hat vorgetragen, sein Vater und dessen Eltern stammten aus Asmara, dem heutigen Eritrea, wo er selbst geboren sei. Insofern ist eine eritreische Herkunft möglich. Zwar dürfte für die eritreische Abstammung i.S.d. Art. 2 Abs. 1 der Verordnung auf die Urgroßeltern abzustellen sein (maßgebliches Jahr 1933), aber diese stammten nach den Angaben des Klägers ebenfalls aus dem heutigen Eritrea. In der mündlichen Verhandlung gab er dazu an, seine Urgroßeltern zwar nicht mehr kennengelernt zu haben, aber alle Vorfahren väterlicherseits stammten aus dem heutigen Eritrea. Für seine eritreische Herkunft spricht zudem seine angegebene Volkszugehörigkeit zu den Tigre. Denn die Tigre waren nicht im heutigen Äthiopien angesiedelt (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe an VG Schwerin, Auskunft v. 23.08.2016, S. 3).

Des Weiteren ist seinem Vortrag zu entnehmen, dass der Vater für den eritreischen Militärdienst rekrutiert worden sei. Dies ist ein starkes Indiz für die eritreische Staatsbürgerschaft des Vaters - und damit dafür, dass der Kläger die eritreische Staatsbürgerschaft in Ableitung erhalten hat -, da grundsätzlich nur eritreische Staatsangehörige zum Militärdienst herangezogen werden. [...]

Zweifel an den Angaben des Klägers, welche im Hinblick auf die Beweislast der Beklagten für die Voraussetzungen der Rücknahme relevant sein könnten, sind nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht erkennbar. [...]

Die fehlende eritreische Staatsangehörigkeit kann entgegen der Ansicht des Bundesamtes auch nicht auf den Umstand gestützt werden, dass der Kläger nach eigenen Angaben keine Staatsangehörigkeitsbescheinigung nach Art. 2 Abs. 4 der Verordnung besitzt. Denn für den Erhalt der eritreischen Staatsangehörigkeit bedarf es keines Verleihungsaktes. [...]

Nach alldem kann das Gericht nicht feststellen, dass der Kläger kein eritreischer Staatsbürger ist.

bb. Die Rücknahmeentscheidung des Bundesamts erweist sich auch nicht deshalb als rechtmäßig, weil der Kläger (neben einer möglichen eritreischen) auch die äthiopische Staatsangehörigkeit besitzt und er diesen Umstand verschwiegen hat. Die äthiopische Staatsangehörigkeit des Klägers kann nicht festgestellt werden. [...]

Auch die Angaben des Klägers belegen nicht seine äthiopische Staatsangehörigkeit. Er selbst behauptet, nicht äthiopischer Staatsangehöriger zu sein. Zwar spricht er Amharisch, die äthiopische Amtssprache. Dies allein rechtfertigt aber nicht den zwingenden Schluss, dass der Kläger tatsächlich äthiopischer Staatsangehöriger ist. Der Kläger hat angegeben, zehn Jahre in Äthiopien gelebt zu haben, insofern geben die Kenntnisse der amharischen Sprache für die Staatsangehörigkeit nichts Belastbares her. Die geschilderten Bedingungen, unter denen der Kläger in Äthiopien gelebt habe, lassen ebenfalls nicht den Schluss zu, dass er von den äthiopischen Behörden als eigener Staatsangehöriger angesehen wurde. [...]

Die hier entscheidende staatsangehörigkeitsrechtliche Rechtslage ergibt aus Art. 33 der äthiopischen Verfassung vom 21. August 1995, dem früheren Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1930 [...].

Nach Art. 1 StAG 1930 ist äthiopischer Staatsangehöriger, wer als Kind eines äthiopischen Vaters oder einer äthiopischen Mutter in Äthiopien oder außerhalb geboren wurde.

In Bezug auf die Mutter des Klägers, ist zwar bekannt, dass sie vor der Unabhängigkeit Eritreas in Addis Abeba geboren wurde und sie damit als äthiopische Staatsangehörige geboren wurde. Weil jedoch über ihre Vorfahren nichts bekannt ist und auch nicht bekannt ist, ob sie nach der Unabhängigkeit Eritreas eritreische Staatsbürgerin - etwa durch Heirat - wurde, lässt sich nicht feststellen, ob sie im Zeitpunkt der Geburt des Klägers im Jahr 1994 (noch) äthiopische Staatsangehörige war. Hierüber ließe sich lediglich spekulieren. Jedoch selbst wenn man von einer äthiopischen Staatsangehörigkeit der Mutter des Klägers im Zeitpunkt seiner Geburt ausginge, würde die oben dargestellte mögliche eritreische Staatsangehörigkeit des Vaters dazu führen, dass keine Subsumtion unter äthiopisches Staatsangehörigkeitsrecht möglich ist. Denn das äthiopische Recht lässt den Besitz mehrerer Staatsangehörigkeiten nicht zu. Zwar behält ein Kind für die Dauer seiner Minderjährigkeit beide Staatsangehörigkeiten. Ein Jahr nach Erreichen der Volljährigkeit muss es sich jedoch entscheiden. Entweder gibt der Betreffende in diesem Zeitraum seine ausländische Staatsangehörigkeit ab oder es wird von Gesetzes wegen unterstellt, dass er den Verzicht auf seine äthiopische Staatsangehörigkeit erklärt (vgl. zu dieser Regelung Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 18.01.2022, S. 26). Der Kläger hat nach eigenen Angaben keine diesbezügliche Entscheidung getroffen. [...]