Wohnungsdurchsuchung zum Zweck der Abschiebung mangels richterlichen Durchsuchungsbeschlusses rechtswidrig:
1. Ob eine dem Richter*innen-Vorbehalt unterliegende Wohnungsdurchsuchung i.S.d. Art. 13 Abs. 2 GG vorliegt, ist aus ex ante-Sicht der Behördenmitarbeiter*innen zu beurteilen. Maßgeblich ist also, ob aus ihrer Sicht vor der Maßnahme anzunehmen ist, dass es zu Durchsuchungshandlungen kommen wird. Hierfür spricht der Zweck des Richter*innenvorbehalts, nämlich die vorbeugende Kontrolle des Eingriffs in den privaten Lebensbereich der Wohnung durch eine unabhängige und neutrale Instanz und damit ein präventiver, d.h. vorbeugender, Rechtsschutz durch Verfahren.
2. Eine "aktive Suche" nach einer Person zum Zweck Ihrer Abschiebung kann kein Betreten i.S.d. § 58 Abs. 5 AufenthG darstellen. Betreten ist das bloße Eintreten in einen Raum und die passive Wahrnehmung von Umständen. Ein gezieltes Tätigwerden durch konkrete Suchhandlungen geht darüber hinaus. Es kann hier deshalb dahinstehen, ob ein gezieltes Betreten, wie in § 58 Abs. 5 AufenthG geregelt, überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist.
(Leitsätze der Redaktion; in Anschluss an: OVG Hamburg, Urteil vom 18.08.2020 - 4 Bf 160/19 (Asylmagazin 10-11/2020, S. 383 f.) - asyl.net: M28735; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.03.2021 - OVG 3 M 143/20, OVG 3 M 144/20 (Asylmagazin 6/2021, S. 236 f.) - asyl.net: M29459; anderer Ansicht: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.03.2022 - 1 S 1265/21 - asyl.net: M30606)
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Danach waren die polizeilichen Maßnahmen am 7. August 2019 rechtswidrig. Die polizeilichen Maßnahmen waren nach der maßgeblichen ex ante-Betrachtung der Vollstreckungsbehörde als Durchsuchungen einzustufen, ohne dass die vorbenannten Voraussetzungen vorlagen. [...]
Der Zweck des Richtervorbehalts nach § 6 Abs. 2 Satz 1 SächsVwVG, der wiederum der verfassungsrechtlichen Regelung nach Art. 13 Abs. 2 GG entspricht und diese nachzeichnet, eine vorbeugende Kontrolle des Eingriffs in den privaten Lebensbereich der Wohnung auf seine Rechtmäßigkeit und insbesondere Verhältnismäßigkeit durch eine unabhängige und neutrale Instanz und somit einen präventiven Grundrechtsschutz durch Verfahren zu gewährleisten, spricht dafür, dass es für die Abgrenzung und das Erfordernis einer Einholung der richterlichen Durchsuchungsanordnung - anders als es der Beklagte meint - auf die ex-ante-Sicht der Behördenmitarbeiter ankommt (vgl. OVG HH, a.a.O., Rn. 37 m.w.N.; vgl. OVG BBG, Beschl. v. 18. März 2021 - OVG 3 M 143/20 -, juris Rn. 9 m.w.N. zu§ 58 Abs. 6 Satz 1 AufenthG; vgl. Wieser: Die richterliche Durchsuchungsanordnung nach § 58 VIII 1 AufenthG - ein Blick in die Praxis, NVwZ 2022, 185, 189). [...]
Gemessen an diesen Maßstäben waren die polizeilichen Maßnahmen am 7. August 2019 eine Durchsuchung. Denn das beabsichtigte Handeln der Beamten erschöpfte sich nicht in einem bloßen Betreten der Wohnung der Klägerin. Vielmehr war die "Prüfung" der Wohnung der Klägerin mit dem Hintergrund, in Erfahrung zu bringen, ob sich der Herr ... in der Wohnung befand, um ihn für diesen Fall der Abschiebung zuzuführen, von Anfang an als mögliche Maßnahme bedacht und tatsächlich dadurch erreicht worden, dass die Beamten sodann - mit Ausnahme des Zimmers der Frau ... - die gesamten Räume der Wohnung abgingen. Es sollte gezielt festgestellt werden, ob sich der Herr ... in der Wohnung aufhielt, was sich insoweit von der bloßen Besichtigung der Wohnung und vom "zufälligen" Wahrnehmen von weiteren Umständen dadurch unterscheidet, dass das in Bezug genommene Ziel explizit das Auffinden einer Person innerhalb der Wohnung war. [...]
Anhaltspunkte dafür, dass die zu dem Zeitpunkt seit gut einer Woche geplante Abschiebung des Herrn ... im Falle der kurzfristigen Beantragung einer richterlichen Durchsuchungsanordnung nicht hätte umgesetzt werden können, mithin Gefahr in Verzug vorlag, sind nicht ersichtlich.
2. Ob § 6 Abs. 1 Satz 1 SächsVwVG gleichfalls für die polizeilichen Maßnahmen am 27. November 2019 oder aber der am 21. August 2019 in Kraft getretene § 58 Abs. 5 Satz 1 AufenthG anzuwenden ist, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Denn nach beiden Vorschriften handelte es sich bei den polizeilichen Maßnahmen am 27. November 2019 um eine Durchsuchung, ohne dass die Voraussetzungen vorgelegen haben. [...]
Danach kann hier dahinstehen, ob das nach § 58 Abs. 5 Satz 1 AufenthG normierte Betretensrecht, welches explizit zum Zwecke der Ergreifung des Abzuschiebenden erfolgen darf, ein gezieltes Betreten sämtlicher Räume der Wohnung zum Auffinden des Abzuschiebenden - wie es der Beklagte annimmt - normiert und ob dies - wofür wenig spricht - verfassungsrechtlich überhaupt zulässig ist (vgl. Franke/Kerkemeyer: Zum verfassungsrechtlichen Durchsuchungsbegriff und der "Betretungserlaubnis" in § 58 V AufenthG, NVwZ 2020, 760, 764 f.). Denn ausweislich der klarstellenden Ausführungen der LOS gegenüber der PD Dresden war eine "aktive Suche" nach Herrn ... vorgesehen (Bl. 14 VwA zum 27. November 2019). Eine aktive Suche enthält dabei sprachlich nicht nur das bloße Eintreten in einen Raum und (passive) Wahrnehmen von Umständen, sondern bezeichnet ein gezieltes Tätigwerden durch konkrete Suchhandlung. Jedenfalls dann liegt kein bloßes Betreten und Besichtigen zum Ergreifen des Abzuschiebenden i.S.v. § 58 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, sondern eine Durchsuchung vor. [...]