VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 14.09.2022 - 22 K 7576/18.A - asyl.net: M31399
https://www.asyl.net/rsdb/m31399
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für HDP-Mitglied aus der Türkei nach Kandidatur zum Ortsvorsteher:

1. Ein Strafverfahren wegen Beleidigung des Präsidenten gegen eine Person, die für die HDP als Ortsvorsteher*in kandidiert hat, stellt politische Verfolgung dar.

2. Die legale Ausreise aus der Türkei über einen Flughafen steht der drohenden politischen Verfolgung nicht entgegen. Denn Verfolgungsmaßnahmen werden zum Teil durch örtliche oder geheime bzw. durch halb- oder illegale staatliche Stellen vorgenommen, von denen andere staatliche Stellen, wie etwa die Grenzschutzbehörden an Flughäfen, keine Kenntnis haben.

(Leitsätze der Redaktion; siehe zu Ls. 2 auch: VG Darmstadt, Urteil vom 27.02.2023 - 7 K 2355/17. DA.A - asyl.net: M31418)

Schlagwörter: Türkei, politische Verfolgung, HDP, Ortsvorsteher, Ausreise, Beleidigung des Staatspräsidenten, Strafverfahren, Präsidentenbeleidigung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Es besteht nach Überzeugung des Einzelrichters eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger bei Rückkehr in die Türkei eine Festnahme und die Vollstreckung einer Gefängnisstrafe wegen des Straftatbestands der "Beleidigung des Staatspräsidenten" drohen und sich dies als Ausdruck politischer Verfolgung darstellt. [...]

Das Gericht hält die Schilderungen des Klägers in Bezug auf seine Kandidatur als Ortsvorsteher und die sich daran anschließenden staatlichen Repressionen insgesamt für glaubhaft. [...]

Hinzu kommt, dass die Schilderungen des Klägers durch die von ihm vorgelegten Screenshots aus den sozialen Netzwerken belegt werden und sich darüber hinaus in die dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse über die gegenwärtige politische Lage in der Türkei einfügen. So führt das Auswärtige Amt im aktuellsten Lagebericht aus, dass im Zuge der Notstandsdekrete von Juli 2016 bis Ende 2017 insgesamt 93 gewählte Kommunalverwaltungen, überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhänder ersetzt worden seien. Bei den letzten Kommunalwahlen am 31. März 2019 seien einige abgesetzte Bürgermeister wiedergewählt worden. Allerdings hätten die lokalen Wahlräte einer Reihe von Wahlsiegern der HDP die Ernennung zum Bürgermeister verweigert und hätten stattdessen die zweitplatzierten Kandidaten (meist: AKP) ernannt. Es seien schrittweise 48 HDP-Bürgermeister abgesetzt und zahlreiche von ihnen im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen in U-Haft genommen worden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Juni 2022) vom 28. Juli 2022 (im Folgenden: AA Lagebericht 2022), S. 7 f.).

Wenn derartige Maßnahmen auf der Ebene der Kommunalverwaltungen ergriffen worden sind, ist erst recht davon auszugehen, dass auch die darunter liegende Ebene, also die Ebene der Ortsvorsteher, von entsprechenden Machtkämpfen zwischen der regierenden AKP und der in den kurdischen Gebieten politisch stark vertretenen HDP betroffen war und bis heute ist. Vor diesem - politischen - Hintergrund stellen sich das gegen den Kläger eingeleitete Ermittlungsverfahren und die Anklageerhebung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als politisch motiviert und somit als politische Verfolgung des Klägers dar. Anhaltspunkte dafür, dass die vom Kläger vorgelegten UYAP-Auszüge nicht echt sein könnten, bestehen nicht. [...]

So blendet das Bundesamt insbesondere aus, dass der Kläger an der Wahl zum Ortsvorsteher teilgenommen und dabei - im Lager der HDP stehend - gegen den Kandidat der regierenden AKP angetreten ist. Dass der Kläger "ohne politische Historie im Heimatland", ist daher sachlich unzutreffend. Auch lässt das Bundesamt die Vorschrift des § 3b Abs. 2 AsylG unberücksichtigt. Danach ist es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Hiervon ausgehend muss auch in den Blick genommen werden, dass der Verfolger, mithin der türkische Staat bzw. die ihn repräsentierenden (Sicherheits-)Behörden, dem Kläger angesichts der - glaubhaft geschilderten - staatlichen Repressionsmaßnahmen (Hausdurchsuchung, Verhaftung, Versiegelung ...) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Rolle eines - kurdischen - Oppositionellen zuschreiben. Eben diese Rolle kommt schließlich auch in der aktuellen Anklage wegen "Beleidigung des Staatspräsidenten" zum Ausdruck. Ob der Kläger tatsächlich Mitglied der HDP ist oder in welcher Form bzw. Qualität er sich exilpolitisch betätigt hat bzw. derzeit betätigt, ist daher wenn überhaupt nur von untergeordneter rechtlicher Bedeutung.

Auch die übrigen gegen die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung vorgebrachten Argumente des Bundesamts greifen im Ergebnis nicht durch. Dies gilt namentlich für den Umstand, dass der Kläger legal ausgereist ist. Das Bundesamt argumentiert, dass bei einer tatsächlich beabsichtigten Verfolgung durch Sicherheitskräfte nahezu ausgeschlossen werden könne, dass dem Kläger die Ausreise ohne Probleme gelungen sein solle. Ein Staat, der die Verfolgung einer ihm politisch missliebigen Person beabsichtige, werde in aller Regel geeignete Maßnahmen ergreifen, um dieser Person auch habhaft zu werden. Dies überzeugt nicht. Es erschließt sich schon nicht, woher das Bundesamt die Gewissheit nimmt, dass ein ihm missliebige Personen verfolgender Staat "in aller Regel geeignete Maßnahmen" ergreifen wird, um dieser Personen habhaft zu werden. Die Realität in solchen Staaten wie der Türkei, in denen tatsächlich (politische) Verfolgung stattfindet, dürfte sich nicht derart unterkomplex beschreiben lassen, wie es das Bundesamt hier tut. Ungeachtet dessen ist diese Aussage von der - nach Ansicht des hier erkennenden Einzelrichters unzutreffenden - Vorstellung getragen, dass staatliche (politische) Verfolgung stets darauf ausgerichtet ist,  einer Person habhaft zu werden, diese also zu verhaften. Neben der Inhaftierung gibt es allerdings unzählige andere Formen der staatlichen (politischen) Verfolgung. So ist es mit Blick auf die Türkei ohne weiteres vorstellbar, dass Verfolgungsmaßnahmen durch örtliche oder geheime bzw. durch halb- oder illegale staatliche Stellen vorgenommen werden, von denen andere staatliche Stellen, wie etwa die Grenzschutzbehörden an Flughäfen, keine Kenntnis haben. So war es auch hier. Die nach der verlorenen Wahl zum Ortsvorsteher einsetzenden staatlichen Maßnahmen (Hausdurchsuchung, Verhaftung, ...) stellten für sich genommen bereits staatliche (Verfolgungs-)Maßnahmen dar, auch wenn diese zu diesem Zeitpunkt noch nicht die rechtliche Qualität von § 3a AsylG erreicht haben mögen. [...]